Presse-Spiegel
Opernhaus Zürich
OPERNFÜHRER
SYNOPSIS
LIBRETTO
HIGHLIGHTS
Giuseppe Verdi: La Forza del Destino
16. Oktober 2005 (Première)
   Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühnenbild
Kostüme
Lichtgestaltung
Chor
Choreographie

Leonora

Preziosilla
Curra
Alvaro
Don Carlo di Vargas
Padre Guardiano
Fra Melitone
Marchese di Calatrava
Un alcade
Mastro Trabuco
Un chirurgo
Nello Santi
Nicolas Joel
Ezio Frigerio
Franca Squarciapino
Jürgen Hoffmann
Jürg Hämmerli
Sabine Mouscardès

Joanna Kozlowska
Stefania Kaluza
Kismara Pessatti
Vincenzo La Scola
Leo Nucci
Matti Salminen
Carlos Chausson
Giuseppe Scorsin
Reinhard Mayr
Martin Zysset
Ruben Drole
Verzeichnis

Rezensionen
     Persönlicher Eindruck
einer Premièren-Besucherin
Bilder, Klänge - Oper?
Augen zu - Ohren auf
Macht der Musik - und der Gewohnheit
Ein Fest für die Sänger, mehr nicht
Das Schicksal - eine Felswand
Nichts gewagt, alles verloren
Dem Schicksal überlassen
Das Schicksal, ein Felsbrocken
Alles verloren - vor allem Verdi
Altbacken bis zum Abwinken
      

Vox spectatricis

17. 10. 2005 / Chantal Steiner

Tiefer Griff in die Mottenkiste

Und wieder einmal kam ich enttäuscht aus einer Premiere. Dass das Zürcher Opernhaus „das nördlichste Opernhaus Italiens ist“, hat es mit dieser Inszenierung von Giuseppe Verdis „La Forza del Destino“ eindrücklich bewiesen… Üppige, realistisch-folkloristische Dekorationen (einzig im 1. Bild des 4. Aktes schien das Geld ausgegangen zu sein), stereotype Operngesten, null Personenführung, keine Deutung, bisweilen Abdriften ins Musical-Genre („Les Misérables“ lassen grüssen)! Man fühlte sich wirklich entweder in die späten 50er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück oder nach Italien versetzt!

Zugegeben: Das Stück ist sperrig. Wieso Verdi überhaupt ein solches Libretto vertont, ist für mich nicht nachvollziehbar. Über die konfuse und unrealistische Handlung könnte ich noch hinwegsehen; aber kann Verdi den Krieg verherrlichenden Text wirklich Ernst genommen haben? Wenn ja, müsste diese Oper George W. Bushs Lieblingsstück sein (sofern er so ein Genre überhaupt goutiert)! Dass Verdi dies ironisch gemeint haben könnte, kann ich mir nur beim „Rataplan“-Chor vorstellen; ansonsten erscheint mir die Musik zu grandios, zu durchdacht zu sein. Vielleicht kann man es nur im Kontext der politischen Lage, des „Risorgimento“ zu verstehen versuchen?

Nichtsdestotrotz hätte ich mir eine Inszenierung gewünscht, bei der ich „mein Hirn nicht an der Garderobe hätte abgeben müssen“. Und wenn doch nur eine bebildernde, konventionelle Inszenierung, dann bitte aber eine musikalische Umsetzung, die es mir erlaubt, mich ganz einfach fallen zu lassen und in der Musik zu schwelgen. Leider war auch dies an diesem Abend nicht der Fall.

Lag es an mir selbst oder hatten die Protagonisten Mühe mit der Umsetzung? Auf alle Fälle sprang der berühmte Funke in keinem Moment über.

Nello Santi begann die Oper mit dem 1. Akt und setzte die Ouvertüre kurzerhand zwischen den 1. und 2. Akt! Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätte sich ein Regisseur „erdreistet“, so etwas zu tun! Für mich schlichtweg nicht akzeptabel von einem Mann, der sich unter den Konventionellsten der Sparte befindet. Und dies alles nur mit der lapidaren Begründung, „nach dem ersten Akt hätte sich das Orchester soweit eingespielt, dass es die schwierige Ouvertüre bewältigen kann“. Was für ein Orchester ist das Zürcher Orchester denn, dass es nicht fähig sein soll, eine Ouvertüre an ihrem angestammten Platz zu spielen?

Das Orchester spielte hervorragend (auch schon vor der Ouvertüre!), von wenigen Patzern bei den Bläsern und einigen Koordinationsschwierigkeiten mit der Bühne abgesehen. Sensationell waren die Sololeistungen der Konzertmeisterin Hanna Weinmeister und des Klarinettisten Robert Pickup. Die Chöre bestachen durch Homogenität, Genauigkeit und Brillanz. Nello Santi dirigierte gewohnt routiniert, vermochte jedoch keine Überraschungen zu vermitteln und war für mein Empfinden bisweilen sehr laut.

Die schwierige Partie der Leonora bewältigte Joanna Kozlowska ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Für mich verfügt die Stimme jedoch über zuviel Metall und zuwenig Schmelz und Sinnlichkeit. Intonationsschwierigkeiten trübten bisweilen das Bild, und ich habe selten ein so dramatisches „Pace, pace, mio Dio“ gehört, das so wenig zu berühren vermochte. Weiss Frau Kozlowska eigentlich, was sie da singt? Vincenzo La Scola in der nicht minder schwierigen Partie des Don Alvaro überraschte mich; ich hätte nicht erwartet, dass er sie so bewältigen würde. Allerdings bleibt noch ein langer Weg bis zur perfekten Umsetzung. Seine angenehm timbrierte Stimme wirkt noch arg forciert, auch wenn er sehr schöne Ansätze zeigt, und die Intonation ist auch nicht die sicherste. Das Ganze bleibt in der Darstellung noch sehr eindimensional. Das Gleiche gilt für Leo Nuccis Don Carlo. Vor der Pause war Nucci schlichtweg langweilig (die Zeiten, wo er einen Studenten verkörpern konnte, dürften langsam vorbei sein), nach der Pause trumpfte er jedoch auf. Leider verfiel er aber bisweilen wieder in seine Unarten (ich nenne das Singen dann eher „Bellen“): Laut, stakkatohaft, mit Anschleifen der Töne. Die Auseinandersetzung im Kriegslager in Italien zwischen Nucci und La Scola entwickelte sich zu einem Duell nach dem Motto „Wer kann lauter?“. Paolo Rumetz, der kurzfristig für den erkrankten Carlos Chausson als Fra Melitone einsprang, chargierte leider übertrieben stark und verfügt weder über den Charme noch die Stimme Chaussons. Er erledigte sich seiner Aufgabe routiniert, ohne aber einen Glanzpunkt setzen zu können. Blieb als einziges wirkliches Highlight der Padre Guardiano von Matti Salminen. Auch wenn er von der Aussprache her an diesem Abend wohl eher die „finnische Fassung“ vortrug, so vermochte er doch vom ersten Augenblick – schon alleine  durch seine Bühnenpräsenz – zu packen. Er war auch der Einzige, der mich mit seinem Wohlklang, seiner minimalistischen, aber prägnanten Darstellung, seinem Mitgefühl verströmenden, profunden Bass zu berühren vermochte. Die Oper endete mit einem ins Nichts aushauchenden Pianissimo dieses Ausnahmekünstlers und einem nicht weniger eindrucksvollen Pianissimo des Orchesters. Die Nebenrollen waren - wie immer - adäquat besetzt.

Fazit: Schade um die verpatzte Chance, ein musikalisch wirklich eindrucksvolles Werk richtig umzusetzen. Die Reaktionen im Publikum waren gemischt. Für ein Verdi-Werk eher verhaltener Applaus; Buhs und Bravos für das Regieteam hielten sich in etwa die Waage.

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Aargauer Zeitung

18. 10. 2005 / Christian Berzins

Bilder, Klänge - Oper?

Verdis «Forza del destino» ist museal bebildert und von Nicolas Joel nur ansatzweise inszeniert. Musikalisch ist der Abend Durchschnitt.

Wie waren die Zürcher 1991 doch erstaunt: Ein Impresario aus Wien hatte sein Opernhaus-Direktoren-Amt begonnen und offerierte Neuinszenierungen noch und noch. Doch bereits bei seiner zweiten Premiere gabs einen Dämpfer. In dunklen Bildern war die von Schicksalsschlägen gezeichnete Liebesgeschichte zischen Leonora und Alvaro verschwunden, eine Deutung von «La forza del destino» blieb Regisseur Tony Palmer dem Publikum schuldig. Da es, so Pereira im «Opernhaus-Magazin», die Verdi-Opern kontinuierlich zu erneuen und zu pflegen gilt, hat er jetzt «La Forza del destino» erneut inszenieren lassen. In 14 Jahren geschah viel, der Blick auf Verdis Opern hat sich gewandelt: Was einst normal war, wirkt heute verstaubt. Vice versa.

So besteht selbst für die Arbeit von Regisseur Nicolas Joel Hoffnung. Er zeigt Verdis Drama nämlich so lustlos, als würde es sich selbst erklären. Doch so genial ist diese (zu) viel gescholtene Oper nicht, dass man sie bloss zu bebildern brauchte. Das Handeln und Denken der zweimal drei Protagonisten gilt es zu hinterfragen und aufzuzeigen - dem Publikum zu erklären. Diese Aufgabe kann man auch in den prächtigen, realistischen Kulissen von Ezio Frigerio und den dicken Kostümen von Franca Squarciapino lösen. Aber Joel unternimmt fast nichts, und so werden selbst steinerne Mauern zu weichen Pappmaché-Wänden, edle Mäntel zu verstaubten Stoffen.

Immer wieder stört auch ein klischierter Realismus: lamentierende Mönche auf Fässern, trippelnde Soldaten, in Ohnmacht fallende Frauen. Das ist Oper von vorgestern. Schlimmer ist, wie dumm Joel seine Figuren auf der Bühne aussehen lässt: Ein Vincenzo La Scola ist in dieser Inszenierung einfach nur ein kleiner, dicklicher Tenor anstatt ein Held mit Inka-Vergangenheit; Joanna Kozlowska ist nur eine matronenhafte Sopranistin und keine trotzige Adels-Tochter. Allein Leo Nucci (Carlo di Vargas) kann mit seiner 30-jährigen Verdi-Erfahrung dagegen ansingen und anspielen.

Selten hat man so gut gehört, dass Verdisingen eben Verdisprechen heisst. Nucci artikuliert überdeutlich und akzentuiert - der Gesang kommt natürlich hinzu: bald dramatisch aufbrausend, bald lyrisch schmeichelnd, immer tief bewegend.

Kozlowska kann den Text nicht sprechen und folglich nicht singen. Und so bleibt ihr bester Moment die Pianissimo-Stelle kurz vor dem Einlass ins Klostergelände («La vergine degli angeli»). Diese Takte singt sie so famos, weil sie ein überaus lyrischer Sopran ist. Doch Leonora ist, bei allem Respekt vor allzu strengem Fächer-denken, nicht mit einem lyrischen Sopran zu besetzen. Denn ein solcher versucht über drei Viertel der Partie dramatisch zu sein. Kozlowska tut das sehr eigenartige: Sie zerreisst die Phrasen, macht eigenwillige Pausen und meint, damit Dramatik zu gewinnen. Es bleiben klischierte Gesten.

Alvaro-Debütant Vincenzo La Scola machte seine Sache besser, genauso wie Matti Salminen (Pa-dre Guardiano). Nach der missglückten Arie «La vita è inferno» fing sich La Scola auf und zeigte, wie beweglich und schmiegsam sein Tenor ist, wie kräftig und doch immer voller sinnlichen Schmelzes. Wie vor 14 Jahren singt Stefania Kaluza die Preziosilla - elegant, schlank, ganz ohne stimmliche Vulgaritäten.

Das Zürcher Publikum ist mit der Zeit gegangen. Vor 14 Jahren jubelte das Publikum, am Sonntag applaudierte es höflich, für die Regie gabs auch zwei, drei Buhs. Vol-ler Hoffnung wartet man auf die grossen Projekte, die der Intendant für die nächsten Jahre angekündigt hat. Immerhin, einer bleibt immer derselbe und gut: Dirigent Nello Santi. 1958 hat er in Zürich bereits «La forza» dirigiert. Es ist ein Genuss, die Qualität des Or-chesters zu belauschen - manchmal kann es Santi in seiner klangprächtigen Entfaltung kaum zurückhalten. Er zeichnet die Phrasen fein, gibt Atem in die Soli und drängende Kraft in die Tutti. Aber es ist auch ein Dirigat, das kaum Überraschungen kennt: Das Orchester schnurrt, wenn das Geschehen explodiert. Dass Santi die Ouvertüre nicht am Anfang, sondern zwischen dem 1. und 2. Akt spielt, bleibt die grösste Überraschung, ja ein Rätsel. Es war das einzige an diesem langen Abend.

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Blick

18. 10. 2005 / Hans Uli von Erlach

Augen zu, Ohren auf

Kaum eine Verdi-Oper ist so reich an herrlicher Musik und so schwach an Handlung. In Zürich wird diese Diskrepanz noch zugespitzt: Ohrenschmaus kontra szenische Langeweile. Premiere war am Sonntag.

Liebe, Resignation, Tod, Fluch, Rache, Mord - in «La Forza del Destino» (Die Macht des Schicksals) ist alles drin, was eine Oper braucht.

Im Familiendrama verflucht der Vater seine Tochter Leonora, weil sie in Alvaro den falschen Mann liebt, der den gestrengen Papa dann auch erschiesst.

Auf der Flucht verlieren sich die Liebenden, finden sich aber zufällig im selben Kloster reuig wieder. Dort entdeckt sie Leonoras Bruder Carlo, der seiner Schwester und dem Vatermörder tödliche Rache geschworen hat. Doch Alvaro, inzwischen Mönch, ersticht Carlo, der vorher noch seine Schwester Leonora umbringt.

Verdi hat die Tragödie grandios vertont, ein Hit für Solisten und Chor jagt den anderen und das Orchester schwelgt mit. Nello Santi wird seinem Ruf als Verdi-Altmeister gerecht, dirigiert das Wechselbad der Gefühle mit musiktheatralischem Gespür. Dramatik bekommt effektvoll Schärfe, lyrische Süsse blüht als Kontrast wunderschön auf.

So differenziert waren nicht alle Protagonisten. Tenor Vincenzo La Scola hatte die extrem fordernde Partie des Alvaro erst nach und nach im Griff, dann aber glanzvoll. Joanna Kozlowska setzte als Leonora vor allem auf phonstarken Verdi-Schöngesang. Dass der junge Don Carlo mit Altstar Leo Nucci besetzt war, schien zunächst ziemlich verfehlt. Bald aber wurde klar: Hier singt ein grosser Könner, der einer Figur facettenreiches Leben einhaucht, auch wenn er nur dasteht.

Denn über mehr als statisches Herumstehen und Herumgehen kam Nicolas Joels Regie selten hinaus. Solches aneinander vorbei und an der Rampe Singen ist endgültig passé. Da helfen auch die dunklen, opulent klassizistischen Bühnenbilder von Ezio Frigerio wenig. Im Gegenteil.

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Der Landbote

18. 10. 2005 / Herbert Büttiker

Macht der Musik - und der Gewohnheit

«La forza del destino» ist eine grosse Herausforderung. Das Opernhaus Zürich macht es sich szenisch zu einfach und lässt sich musikalisch beeindruckend herausfordern.

Verdi konnte sich über seine abenteuerlichste Opernhandlung auch ironisch äussern, und der Intendant, der «La forza del destino» auf den Spielplan setzt, wird sich lächelnd, vielleicht auch leicht erschreckend, an die Bemerkung erinnern, angesichts so vieler Toter am Ende auf der Bühne grenze es an ein Wunder, dass sich nicht auch der Impresario unter ihnen befinde. Dass der Opernhaus-Direktor diesmal davon gekommen ist, liegt kaum an der Inszenierung von Nicolas Joel, die gerade die Finalszene – die Ermordung Leonoras durch ihren im Duell mit Alvaro tödlich verwundeten Bruder – patzig in den Vordergrund holt und insgesamt wenig Profil zeigt. Schon eher hat der Erfolg dieser Premiere mit der Verdi-Crew zu tun, die Alexander Pereira zur Verfügung hat, Altmeister Nello Santi an der Spitze.

Vor allem aber ist es eben ein Stück von Verdi, und dieser wusste, dass er mit seiner Musik gerade aus dem Unwahrscheinlichen Wahrheit herausholen konnte – im Zusammenhang mit Gildas Leiche im Sack («Rigoletto») hat er sich darüber explizit geäussert. Und das Absurde des Lebens war durchaus sein Metier und shakespearesche Phantastik Vorbild.

Kloster und Welt
Das Drama des Spaniers Angel de Saavedra, Herzog von Rivas kam Verdi somit gerade recht: In «Don Alvaro o la fuerza del sino» (1835), einem der Hauptwerke der aus der Theaterküche Victor Hugos genährten spanischen Romantik, sah er ein Sujet, das «wirkungsvoll, einzigartig und äusserst weit gespannt» war. Was die Ausweitung ins Komische betraf, so setzte er zusammen mit seinem Librettisten Francesco Maria Piave sogar noch einiges drauf: Fra Melitone erhielt nach dem Vorbild Schiller («Wallensteins Lager») mit seiner Kapuziner-Predigt den grossen Auftritt, und auch die Zigeunerin Preziosilla wurde ins musikalische Zentrum des effektvollen «Scherzos» geholt, das den schweren Atem der Haupthandlung kontrastiert. «La forza del destino», im Kern der enge Kreis einer Verfolgungsjagd, bei der es um Rassendiskriminierung und Standesdünkel, um eine unmögliche Liebe und um Rache geht, ist so insgesamt Verdis grosses Panorama des Lebens zwischen Klosterstille und Weltgetümmel, zwischen intimer Seelenarbeit und Ausschweifen in der Wildnis von Kriegslärm und -elend.

Vertrauen in Verdis szenischen Realismus ist an sich der beste Ausgangspunkt für eine Inszenierung des weitläufigen Vierakters, und die Zürcher Produktion steht in diesem Sinn auf fruchtbarem Boden: Ezio Frigerios Bühnenbilder grundieren das Geschehen stimmungsvoll, und Franca Squarciapinos Kostüme, die es aus dem 18. ins 19. Jahrhundert vorschieben, vermitteln historische Atmosphäre ohne folkloristischer Buntheit zu verfallen.

Dass man so etwas wie Eigensinn in der ästhetisch gediegenen Arbeit vermisst, ist weniger ihr Problem als das der Regie, deren Ideenlosigkeit in Sachen Personenführung und szeni scher Motivation alles auf blosse Staffage reduziert. Da fehlen selbst die zur puren Plausibilität notwendigen Massnahmen wie etwa Leonoras Einkleidung vor der Zeremonie. Aber schlimmer noch, wenn einmal, eben in der Finalszene, die ungewohnte szenische Lösung gesucht wird: Wie kann man nur den unerhörten Orchester-Moment verspielen, wenn sich das Liebespaar, das sich nach dem ersten Akt bis hier nicht mehr sieht, plötzlich gegenübersteht?

Verdi-Gesang
Nun, die Musik macht tatsächlich vieles auch selbst. Eher verloren stehen manchmal die Spielfiguren da, etwas harmlos bleibt Preziosilla, obwohl Stefania Kaluza die brillante Partie mit Leichtigkeit und auch einiger Verve meistert. Blass bleibt Giuseppe Scorsins Marchese. Paolo Rumetz allerdings schwingt als Fra Melitone die Suppenkelle mit urwüchsigem Buffo-Talent, und auch Alfred Zysset (Mastro Trabuco) und Reinhard Mayr (Alkalde) setzen sich stimmlich markant in Szene. Besonders in den Duetten zwischen Alvaro und Carlo lodert das dramatische Feuer heftig. Beide entfalten hier ihr stimmliches Potenzial am flexibelsten und vollsten, während sie in den exponierten Arien eher zähflüssiger agieren. Aber Vincenzo La Scola gibt insgesamt ein Rollendebut, das in seiner expressiven Vehemenz an die grossen Vorgänger erinnert, und wo die baritonale Brillanz nicht in Überfülle zu Gebot steht, verschafft Leo Nucci seiner Figur die draufgängerische Dynamik mit impulsiven Akzenten.

Verdi-Gesang pur bietet am dichtesten Joanna Kozlowskas Leonora, immer wieder berührend durch Fülle, ausdrucksvolle Reinheit des Timbres und durch innige Phrasierung. Schön der Kontrast ihres emotionalen Soprans im Duett mit Padre Guardian, in dem Matti Salminens gleichsam instrumentaler Priester-Bass einen klaren Kontrapunkt setzt.

Keine Altersmilde
Zum musikalischen Plus der Aufführung gehört, was die Chöre zwischen «La Vergine degli angeli» und «Rataplan» mit Präzision und Klangfülle leisten. Auch diesbezüglich gilt: im Reichtum der Kontraste lässt Verdis präziser Einfallsreichtum keinen Moment der Ermüdung aufkommen. Dass Kantilene dabei nur eine Qualität unter vielen ist, aber auch eine des Orchesters, gehört zum musikalisch Beglückenden des Abends, zu verdanken insbesondere Klarinette und Solovioline. Der Reichtum begleitender Nebenstimmen wird von Santi wohl nicht immer klar genug herausgearbeitet, aber punkto dramatischer Schlagkraft lässt sein Dirigat noch lange nicht an Altersmilde denken.

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Neue Luzerner Zeitung

20. 10. 2005 / Stefan Degen

Ein Fest für die Sänger, mehr nicht
Die Neuproduktion von Verdis «La forza del destino» am Opernhaus Zürich ist in erster Linie ein Sängerfest. Regiearbeit ist kaum wahrzunehmen.

Verdis «La forza del destino» (Die Macht des Schicksals) gilt dramaturgisch als schwieriges Stück, da die Handlung mancherlei unlogische Wendung nimmt. Das Libretto von Francesco Maria Piave basiert auf Angel de Saavedras Drama «Don Alvaro o La fuerza del sino» (von 1835) und auf Schillers «Wallenstein». Ungeachtet des konfusen Textbuchs hat sich Verdis musikdramatisches Gespür an der Vielfarbigkeit des Stoffes entzündet. Der Komponist leitete selber die Uraufführung 1862 in St. Petersburg. Die italienische Erstaufführung der überarbeiteten Fassung fand 1869 an der Mailänder Scala statt.

Regie abwesend
Der französische Regisseur Nicolas Joel begnügte sich in Zürich mit einer Reihe von pittoresken Arrangements der Soldaten- und Chorszenen, während die Protagonisten in dem Stück um Liebe, verletzte Ehre und Rache völlig auf sich selbst gestellt bleiben. Von einem Herausarbeiten der psychologischen Beziehungen der Charaktere untereinander wollte Joel offenbar nichts wissen. Sein Bühnenbildner Ezio Frigerio schuf eine düster-naturalistische Bühnenlandschaft mit Felsen und Mauern, die rasch hinauf- und heruntergefahren werden können. Ein Pappmaché-Felsblock hängt schicksalsschwanger über der Szenerie und senkt sich am Schluss, wie erwartet, ganz herab.

In der zentralen Klosterszene schafft das Bühnenbild wenig Atmosphäre. Einzig die riesige Christus-Ikone an der Rückwand verweist auf den Schauplatz. Joel siedelt die Handlung zur Zeit der Entstehung der Oper an (Kostüme: Franca Squarciapino). Doch es bleibt der Eindruck einer altbackenen, überaus konventionellen Inszenierung mit viel Rampensingen, was denn auch an der Premiere mit einigen Buhs quittiert wurde. Die dreieinhalb Stunden der Oper ziehen sich fast quälend lang hin.

Altmeister am Pult
So rückte einmal mehr in Zürich die musikalische Umsetzung der Verdi-Oper ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Und hier ist Altmeister Nello Santi Garant für eine packende Wiedergabe. Santi liess das Orchester der Oper Zürich mit viel Drive musizieren, kostete aber auch lyrische Szenen mit subtilem Einfühlungsvermögen aus. Musikalische Kontraste vom Feinsten also, wie auch das Melodramma sie aufweist.

Zwei Rollendebüts
In den Hauptpartien gab es zwei Rollendebüts: Vincenzo La Scola sang den Don Alvaro überaus differenziert und mit kraftvoller Höhe. Sein Tenor gefällt durch angenehmes Timbre, die Stimme ist geschult am Belcanto. Die junge Polin Joanna Kozlowska (Leonora) hinterliess an der Premiere einen zwiespältigen Eindruck. Ihr Sopran klang streckenweise seltsam belegt, doch es gab auch Momente wunderbarer Kantilenen und feuriger Aufschwünge.

Als Verdi-Stilist gefällt Leo Nucci (Carlo di Vargas) durch elegante Phrasierungen und eine noch immer sichere Höhe seines edlen Kavalierbaritons. Auch darstellerisch ist der Sänger ungemein präsent.

Matti Salminen ist mit samtenem Bass eine Luxusbesetzung als Padre Guardiano. Einspringer Paolo Rumetz als Fra Melitone versprühte deftige Komik nicht ohne Gefahr, denn Joel lässt ihn unsinnigerweise auf ein wackeliges Fass steigen. Stefania Kaluza ist eine verführerische, stimmschöne Preziosilla. Der Chor läuft zu grosser Form auf, so im Mönchsgesang («Maledizione!») im zweiten Finale, das auch dank Salminen zum Höhepunkt des Abends wird. Zürichs umfangreiches Verdi-Repertoire ist mit dieser «Forza» um ein Werk reicher wenn auch in antiquiertem Gewand.

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Neue Zürcher Zeitung

18. 10. 2005 / Marianne Zelger-Vogt

Das Schicksal - eine Felswand

«La forza del destino» von Verdi im Zürcher Opernhaus

Ein schreckliches Verhängnis waltet über den Protagonisten dieser romantischen Verdi-Oper: Leonora, die Tochter des Marchese di Calatrava, verletzt die Familienehre, indem sie einen Mestizen, Alvaro, liebt. Als dieser sie entführen will, tötet er ungewollt ihren Vater, weil sich ein Schuss aus seiner Pistole löst. Auf der Flucht verlieren sich die zwei Liebenden. Zeitsprung und Szenenwechsel: In einem Heerlager in Italien rettet Alvaro dem Sohn des Marchese, der Rache an ihm und seiner Schwester geschworen hat, das Leben. Nachdem sie sich ewige Freundschaft gelobt haben, entdeckt Carlo die Identität Alvaros. Neuer Zeitsprung, zurück nach Spanien: In einem Kloster, wo Leonora als Eremitin und Alvaro als Laienbruder jahrelang unerkannt nebeneinander gelebt haben, kommt es endlich zum Duell. Alvaro tötet Carlo, der sterbend seine Schwester ersticht. Opfer eines unergründlichen Schicksals, wie es der Werktitel suggeriert? Nein, Opfer eines erstarrten Ehrbegriffs, der auf Standesdünkel, Rassenhass und Jungfräulichkeitskult gründet und der Liebe als Ausdruck individueller Selbstbestimmung keine Chance lässt.

Dekorative Bilder
Am Zürcher Opernhaus scheint nicht nur über den handelnden Figuren, sondern über dem Werk selbst ein schlechter Stern zu stehen. «La forza del destino» war, in der Regie von Tony Palmer, 1991 die zweite Opernneuinszenierung der Intendanz Pereira - und nach dem glanzvollen Auftakt mit Robert Wilsons «Lohengrin» ein szenischer Absturz. Jetzt unternimmt Alexander Pereira einen zweiten Versuch, diesmal mit Nicolas Joel, dessen ketzerische «Traviata»-Interpretation von 1985/86 als einer der grössten Skandale der Ära Drese in Erinnerung bleibt. Ist es wirklich derselbe, der jetzt diese gefällig dekorativen Gruppenbilder (mit einem vokal imposanten Chor), diese spannungslosen Liebes- und Kampfszenen arrangiert und sich dazu von Franca Squarciapino malerische Kostüme nach der Mode des mittleren 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit des Werkes, hat kreieren lassen?

Die Bühnenbilder stammen von Ezio Frigerio: wechselvoll in ihrer Motivik, doch einheitlich düster, ohne die Stimmungs- und Hell-Dunkel-Kontraste, welche die Werkdramaturgie vorgibt. Vor duftig romantischen Hintergrundsprospekten und einem goldgefassten Christusbild reihen sich massive Ausstattungsstücke. Als penetrant symbolträchtiges, monströs hässliches Leitmotiv dient eine zerklüftete Felswand, die sich am Schluss des ersten Bildes auf die Szene zu senken beginnt und zuletzt, ergänzt durch ein Gitter, an dem die sterbende Leonora sanft niedersinkt, die verbleibenden Akteure ganz einschliesst. Welcher Widerspruch zu der durchsichtig zarten Musik, mit der Verdi hier - in der Mailänder Fassung - die Vision einer Versöhnung und Vereinigung im Tod in Töne gesetzt hat.

Überzeugende Besetzung
Mehr Glück hat Pereira diesmal mit der Sängerbesetzung. Da ist der warme, lyrisch grundierte Sopran von Joanna Kozlowska, der die weitgespannten Legatobögen der Leonora mit grossem Atem und feinem Klangsinn nachzeichnet. Ein eindrückliches Rollendébut, wenn auch nicht ganz frei von Premierennervosität, unter der auch Vincenzo La Scolas Alvaro zu leiden schien. Die edle Substanz seines Tenors entfaltet sich am schönsten in den leiseren Abschnitten. Sobald er auf dramaturgische Ausdruckskraft zielt, verhärtet und verengt sich die Stimme. Als Darsteller ist La Scola ebenso ein Opfer von Joels indifferenter Personenregie wie Leo Nucci, der jedoch als Don Carlo mit dem ganzen Potenzial seiner meisterhaften Technik, seiner Rollenerfahrung und seines nach wie vor in allen Lagen intakten, mühelos ansprechenden Baritons aufwarten kann. Nicht weniger souverän gestaltet Matti Salminen mit seinem tragenden, üppig strömenden und doch nuancenreichen Bass die Rolle des würdevollen Padre Guardiano. Der für Carlos Chausson eingesprungene Paolo Rumetz ist sängerisch ein untadeliger Fra Melitone, verleiht der grotesk komischen Figur aber kaum geschärftes Profil. Wie bei der letzten Zürcher Einstudierung verkörpert Stefania Kaluza die Preziosilla, und wie damals kommt ihr heller, schlanker Mezzosopran kaum zur Deckung mit dem feurigen Temperament der Zigeunerin und Marketenderin.

Fast ein halbes Jahrhundert nach seinem folgenreichen Zürcher Début mit «La forza del destino» hat Nello Santi die musikalisch so kraftvolle und farbige, szenisch ihrer episodenhaften Collage-Dramaturgie wegen so schwierige Verdi- Oper ein weiteres Mal einstudiert, und er wagt dabei sogar eine Neuerung, indem er die Ouverture nicht zu Beginn, sondern zwischen dem ersten und dem zweiten Akt spielen lässt. Dem Spannungsaufbau ist das nicht förderlich, die erste Szene steht dadurch gleichsam im Leeren. Doch das Orchester hat sich, wie es Santis Absicht war, bis zu diesem grossen Instrumentalstück tatsächlich aufgewärmt, und Dramatik bringt der Maestro, neben vielen Feinheiten koloristischer, dynamischer und artikulatorischer Art, im weiteren Verlauf des Abends noch genügend ein. Was aber den Regisseur Nicolas Joel betrifft, so bleibt zu hoffen, dass er sich bei seiner nächsten Zürcher Produktion, Verdis «Aida» im kommenden Mai (mit demselben Ausstatterteam und mit Adam Fischer am Pult), nicht mit szenischer Konfektionsware begnügt.

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St. Galler Tagblatt

18. 10. 2005 / Tobias Gerosa

Nichts gewagt, alles verloren

Verdis «La Forza del Destino» am Opernhaus Zürich

Am Opernhaus Zürich dirigiert Nello Santi feurig wie stets Giuseppe Verdis «La Forza del Destino». Regisseur Nicolas Joel inszeniert, als wäre die Oper vor Jahrzehnten stillgestanden.

Theater muss schief gehen dürfen. Aber wer ein Stück inszeniert, muss wissen, was er erzählen will. Ob immer eine direkte Relevanz fürs heutige Publikum herausschauen muss, darüber kann man sich vielleicht streiten, aber nur auf schönen Melodien und Rührung zu setzen, ist gar wenig. Eine Fernsehsendung von vor 20 Jahren wirkt heute lächerlich. Warum meint Regisseur Nicolas Joel am Opernhaus Zürich, dass man die noch viel älteren Opern noch zeigen kann wie anno dazumals?

Das Schicksal hängt drüber
In Verdis «Forza del Destino» erschiesst der Tenor Don Alvaro den Vater seiner Geliebten Leonora zufällig, als er ihm die Pistole vor die Füsse werfen will, um sich zu ergeben – das Schicksal schlägt zu und hängt in Ezio Frigerios Bühnenbild als Meteorit über der Bühne. Dass die Ouvertüre, in der das Schicksalsmotiv so effektvoll lyrischen Bläserlinien entgegengesetzt ist, erst nach dem kurzen ersten Akt ertönt, ist ein dramaturgisch überzeugender Kunstgriff – leider bleibt er der Einzige.

Dabei glückt Nello Santi auch sonst eine musikalisch glühende, den musikdramatischen Fluss mit feinen Rubati überzeugend steuernde Interpretation. Allerdings ist er auch bekannt dafür, das absolute Primat des Dirigenten über den Regisseur zu behaupten und somit vielleicht am szenischen Bankrott nicht unschuldig.

Wo die Hauptfiguren auch vokal agieren sollten, stehen sie vor allem. Das fällt umso mehr auf, als sie mit den Anforderungen ihrer Partien ringen. Bei Vincenzo La Scola (Alvaro) und Joanna Kozlowska (Leonora) äussert sich die dramatische Überforderung auch in gestalterischem Ungefähr, je ein paar schöne Momente im Mezzavoce wiegen das nicht auf. Auch bei Leo Nucci bleibt offen, wie es zum gnadenlosen Hass kommt, den Leonoras Bruder Carlo zur Rache antreibt – immerhin ist Rassismus gegenüber dem Mestizen Alvaro ein wichtiger Grund. So stilsicher seine Phrasierung noch immer ist, durchgestaltet wirkt auch sein Rollenporträt nicht.

Da ist man froh um Matti Salminen als imposanter Abt Guardia. Inmitten einer drängenden Bettlerschar Bibel lesend, wirkt er allerdings szenisch nicht weniger verloren als seine Kollegen. «Weltstars im Abo» wirbt das Opernhaus – man wäre mit rollendeckender Besetzung zufrieden.

Ohne Hinter-Gedanken
Noch schlimmer als der tragischen Haupthandlung, die unter dem sich senkenden Meteoriten endet, ergeht es der Nebenhandlung. Sie wird zum pittoresken Beigemüse. Ob Gasthausgäste, Soldaten oder Bettler: Der homogen und plastisch singende Chor agiert praktisch unterschiedslos. Dass er zusammen mit den komischen Nebenrollen sozialen und politischen Hintergrund liefern würde, bleibt ausgeblendet.

Das Volk den Krieg besingen zu lassen, ohne das in der nächsten Szene gezeigte Elend der Armenspeisung im Kloster mitzudenken, kann man sich eigentlich nicht mehr vorstellen. So harmlos hat das Verdi niemals gedacht.

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Die Südostschweiz

18. 10. 2005 / Christian Berzins

Dem Schicksal überlassen

«La forza del destino» verblüfft in Zürich durch Nichteinmischung der Regie

Das Opernhaus Zürich hat am Sonntag seine Neuinszenierung von Giuseppe Verdis «La forza del destino» gezeigt: musikalisch zufrieden stellend, aber auch museal bebildert.

Wie waren die Zürcher 1991 doch erstaunt: Kaum hatte der neue Impresario Alexander Pereira aus Wien sein Opernhausdirektoren-Amt angetreten, offerierte er Neuinszenierungen noch und noch. Doch bereits bei seiner zweiten Premiere gabs einen Dämpfer: Verdis von Schicksalsschlägen gezeichnete Liebesgeschichte zwischen Leonora und Alvaro versank in dunklen Bildern, eine Deutung von «La forza del destino» blieb Regisseur Tony Palmer dem Publikum schuldig. Da es, so Pereira im «Opernhaus-Magazin», die Verdi-Opern kontinuierlich zu erneuern und zu pflegen gilt, hat er jetzt «La forza del destino» neu inszenieren lassen. In 14 Jahren geschah viel, der Blick auf Verdis Opern hat sich gewandelt: Was einst normal war, wirkt heute verstaubt. Vice versa. – So besteht selbst für die Arbeit von Regisseur Nicolas Joel Hoffnung. Er zeigt Verdis Drama nämlich so lustlos, als würde es sich selbst erklären. Doch so genial ist diese (zu) viel gescholtene Oper nicht, dass man sie bloss zu bebildern bräuchte. Das Handeln und Denken der zweimal drei Protagonisten gilt es zu hinterfragen und aufzuzeigen – dem Publikum zu erklären. Diese Aufgabe kann man auch in den prächtigen, realistischen Kulissen von Ezio Frigerio und den dicken Kostümen von Franca Squarciapino lösen. Aber Joel unternimmt fast nichts, und so werden selbst steinerne Mauern zu weichen Pappmaché-Wänden, edle Mäntel zu verstaubten Stoffen.

Oper von vorgestern
Immer wieder stört auch ein klischierter Realismus: lamentierende Mönche auf Fässern, trippelnde Soldaten, in Ohnmacht fallende Frauen. Das ist Oper von vorgestern. Schlimmer ist, wie dumm Joel seine Figuren auf der Bühne aussehen lässt: Ein Vincenzo La Scola ist in dieser Inszenierung einfach nur ein kleiner, dicklicher Tenor anstatt ein Held mit Inka-Vergangenheit; Joanna Kozlowska ist nur eine matronenhafte Sopranistin und keine trotzige Adelstochter. Allein Leo Nucci (Carlo di Vargas) kann mit seiner 30-jährigen Verdi-Erfahrung dagegen ansingen und anspielen. Selten hat man so gut gehört, dass Verdi-Singen eben Verdi-Sprechen heisst. Nucci artikuliert überdeutlich – der Gesang kommt natürlich hinzu: bald dramatisch aufbrausend, bald lyrisch schmeichelnd, immer tief bewegend.

Kozlowska kann den Text nicht sprechen und folglich nicht singen. Und so bleibt ihr bester Moment die Pianissimo-Stelle kurz vor dem Einlass ins Klostergelände («La vergine degli angeli»). Diese Takte singt sie so famos, weil sie ein überaus lyrischer Sopran ist. Doch Leonora ist, bei allem Respekt vor allzu strengem Fächer-Denken, nicht mit einem lyrischen Sopran zu besetzen. Denn ein solcher versucht über drei Viertel der Partie dramatisch zu sein. Kozlowska tut das sehr eigenartig: Sie zerreist die Phrasen, macht eigenwillige Pausen und meint, damit Dramatik zu gewinnen. Es bleiben klischierte Gesten.

Rätselhafte Ouvertüre
Das Zürcher Publikum ist mit der Zeit gegangen. Vor 14 Jahren jubelte das Publikum, am Sonntag applaudierte es höflich, für die Regie gabs auch zwei, drei Buhs.

Immerhin, einer bleibt immer derselbe und gut: Dirigent Nello Santi. 1958 hat er in Zürich bereits «La forza» dirigiert. Es ist ein Genuss, die Qualität des Orchesters zu belauschen – manchmal kann es Santi in seiner klangprächtigen Entfaltung kaum zurückhalten. Er zeichnet die Phrasen fein, gibt Atem in die Soli und drängende Kraft in die Tutti. Aber es ist auch ein Dirigat, das kaum Überraschungen kennt: Das Orchester schnurrt, wenn das Geschehen explodiert. Dass Santi die Ouvertüre nicht am Anfang, sondern zwischen erstem und zweitem Akt platziert, bleibt die grösste Überraschung, ja ein Rätsel – allerdings das einzige an diesem langen Abend.

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Tages-Anzeiger

18. 10. 2005 / Susanne Kübler

Das Schicksal, ein Felsbrocken

Bunte Musik, blasse Regie: «La forza del destino» von Giuseppe Verdi am Zürcher Opernhaus.

Das Schicksal kann kapriziös sein. Dann lässt es einen tödlichen Schuss losgehen aus einer Pistole, die einer dem Vater seiner Braut eigentlich als Friedensangebot vor die Füsse wirft. Es trennt die Liebenden, jagt ihnen durch Kneipen und Kriege einen rachsüchtigen Bruder hinterher und bringt die drei schliesslich Jahre später in einem Kloster zusammen. Dort finden sie den Tod (die Geschwister, Leonora und Don Carlo) oder die Erleuchtung (der Geliebte, Don Alvaro), und man weiss eigentlich nicht genau, wie das gekommen ist.

Giuseppe Verdi liebte solche Geschichten, ohne Logik, ohne Wahrscheinlichkeit, aber mit einer endlosen Reihe von dramatischen Szenen. Sie boten ihm das, was er brauchte: eine flexible Vorlage, auf die er sein gesamtes musikalisches Vokabular anwenden konnte. Vom Schwank zur Tragödie, von der Operette zur Programmmusik führt «La forza del destino»; die Pilger, die einmal durch den Hintergrund ziehen, könnten direkt aus dem handlungsmässig ebenso unwahrscheinlichen «Trovatore» stammen. Dem Schicksal kann es eben auch einfallen, einen grossen Komponisten mit einem Talent für die Vertonung kurioser Stoffe (hier vom Spanier Angel de Saavedra) auszustatten.

Bittersüsse Arien
Dieses Talent hatte Verdi zweifellos, und dank ihm kommt in dieser schrägen Geschichte so mancher an seinen richtigen Platz. Matti Salminen etwa, der wieder einmal einen Mönch geben darf und es mit Würde und warmem, geschmeidigem Bass tut. Die Szene, in der er Leonora in die Einsiedelei entlässt, ist die stärkste des Abends, denn so klischiert die Figur dieses Padre Guardiano ist: Verdis Musik und Salminens Gesang sind es nicht.

Auch Nello Santi kommt das Werk entgegen. 1958 hat er mit ihm seinen Einstand gegeben am Zürcher Opernhaus, nun dirigiert er es wieder, ungekürzt (was bei Santi keine Selbstverständlichkeit ist) und mit gewohntem Sinn für saftige Klänge. Geradezu lüpfig nimmt er manche Dreiertakte, der bittersüsse Tonfall vieler Arien liegt ihm. Wenn er szenische Momente der Musik umsetzt - das herzschlagähnliche Pochen zur Arie des verwundeten Don Alvaro etwa, die Schlachtmusiken oder die Tänze -, dann tut er es mit effektfreudiger Hingabe. Und die einzige Umstellung in der Partitur hat durchaus ihre Vorteile: Santi lässt die Ouvertüre erst nach dem ersten Akt spielen, damit die Umbaupause überbrückt wird - und weil das Orchester so für das heikle Stück bereits aufgewärmt sei (es war es bei der Premiere am Sonntag tatsächlich: Das Orchester der Oper spielte die Ouvertüre farbenreich, prägnant, stimmungsvoll).

Die Nachteile dieser Umstellung wurden allerdings ebenso deutlich. Für die Darsteller der Leonora und des Don Alvaro ist der Einstieg nach wenigen vorbereitenden Takten des Orchesters ein Sprung ins Leere, und es dauerte eine Weile, bis sie sich darin orientierten. Die Koordination zwischen Bühne und Graben war problematisch, und immer wieder reagierten die Liebenden mit Verzögerung aufeinander. Der erste Akt wirkte so nicht nur dramaturgisch, sondern auch musikalisch wie ein Prolog.

Insofern hat auch hier das Schicksal richtig entschieden: Leonora und Don Alvaro begegnen einander erst am Schluss der Oper wieder, und bis dahin können sie weit ausdrucksstärker über die verlorene Liebe klagen, als sie sich über die reale gefreut hatten. Vor allem Joanna Kozlowska als Leonora bietet ein schillerndes Rollenporträt, mit vibratoreichem, aber dennoch klar geführtem Sopran und berückenden introvertierten Klängen. Salminens grosse Szene ist auch die ihre (und jene von Jürg Hämmerlis Opernhaus-Chor, dem dieses Werk zahlreiche attraktive Auftritte beschert).

Auch Vincenzo La Scola als Don Alvaro steigert sich nach dem ersten Akt; zwar ist sein Timbre eher hart als lyrisch, er fordert Gnade eher ein als dass er sie ersehnt. Aber sowohl stimmlich als auch darstellerisch wirkt er beweglicher als vor ein paar Jahren in der Zürcher «Tosca».

Bankrotterklärung der Regie
Das ist ganz allein sein Verdienst, denn der französische Regisseur Nicolas Joel lässt sich von dieser «Forza del destino» auffallend passiv beuteln - und reiht die Aufführung damit ein in die inzwischen ziemlich umfangreiche Serie missglückter Zürcher Verdi-Inszenierungen. Es wäre unsinnig, die Oper realistisch zu verstehen oder ihr einen Symbolgehalt zu unterstellen, lässt sich Joel, der im Mai auch noch die «Aida» betreuen wird, im«Opernhaus-Magazin» verlauten. Das ist nicht weniger als eine Bankrotterklärung der Regie: Was keinen Sinn macht, macht halt keinen.

So wird dann einfach bebildert, was gerade vorkommt. Freudig besingen die Soldaten den schönen Krieg, die Hungernden humpeln ein wenig und sind dann schnell wieder zufrieden. Liebe ist Liebe und Krieg ist Krieg, wie Marionetten kippen die Figuren von einem Seelenzustand in einen anderen, und für dramatische Momente gibts zum Glück Trockeneis. Naiv wirkt das, zu den grossen Themen des Stücks - Liebe, Rache, Gewalt, Rassismus - hat die Regie befremdlich wenig zu sagen. Nur ein grosser Felsbrocken, der drohend über Ezio Frigerios düsterer Bühne hängt, zeigt an, dass die Geschichte ein übles Ende nehmen wird.

Es nähert sich in der Gestalt von Don Carlo, dargestellt von Leo Nucci, den man sonst mittlerweile eher in Vaterrollen findet. Dass ihm die Wahrsagerin (eine ausdrucksstark, aber mit ausgeprägten Brüchen zwischen den Registern singende Stefania Kaluza) den Studenten nicht abnimmt, leuchtet auch der Zuschauerin ein. Aber immerhin, dank Franca Squarciapinos Kostümen und Nuccis physischer Elastizität mag dieser Don Carlo, wenn nicht als Bruder, so doch als älterer Cousin Leonoras durchgehen; und wenn er mit gebleckten Zähnen und kräftigem Bariton seine Rachepläne verfolgt, dann ergänzt er das Protagonistentrio auf hohem Niveau.

Am Ende, wenn er vor seinem eigenen Tod noch rasch Leonora ersticht, senkt sich dann auch der Felsbrocken über die Szene. Man hat es kommen sehen.

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Zürcher Oberländer

18. 10. 2005 / Tobias Gerosa

Alles verloren - vor allem Verdi

Mit Verdis «La Forza del Destino» zeigt das Opernhaus Zürich ein musikalisch reiches Werk des italienischen Meisters. Die Inszenierung und die Rollenbesetzung indes überzeugte nicht.

Ohne Idee, ja ohne auch nur erkennbaren Willen, die Handlung zu gestalten, buchstabiert Regisseur Nicolas Joel Verdis «La Forza del Destino» der Handlung des Librettos nach - ein Stück, das in seiner Anlage und seinen Themen genügend Zündstoff bieten würde. Der Dirigent Nello Santi tut viel dafür, dass die Partitur lebendig und aufregend frisch tönt, hat aber kein adäquates Ensemble auf der Bühne.

Oper wie anno dazumal
Theater muss schief gehen dürfen; ein Konzept oder ein Bild wird sich erst an der Premiere als nicht tragfähig erweisen. Aber man muss sich überlegen, was man mit einem Stück erzählen will. Ob immer eine direkte Relevanz fürs heutige Publikum herausschauen muss, darüber kann man sich streiten (nur: Warum soll man Stücke sonst noch spielen?), aber nur auf schöne Melodien und Rührung zu setzen, ist zu wenig. Eine 20 Jahre alte Fernsehsendung wirkt heute antiquiert. Warum dann sollte man die meist noch viel älteren Opern noch zeigen, wie anno dazumal?

Schicksal ist ein Meteorit
In Verdis «Forza del Destino», einer musikalisch sehr reichen Oper auf dem Weg zum Spätwerk, erschiesst der Tenor Don Alvaro (Vincenzo La Scola) den Vater (Giuseppe Scorsin) seiner Geliebten Leonora (Joanna Kozlowska) zufällig, als er ihm die Pistole vor die Füsse werfen will, um sich zu ergeben - das Schicksal schlägt zu und hängt in Ezio Frigerios Bühnenbild von dieser Eröffnungsszene als Meteorit über der Bühne. Dass die Ouvertüre, in der das Schicksalsmotiv so effektvoll lyrischen Bläserlinien entgegengesetzt ist, erst nach dem kurzen ersten Akt ertönt, ist ein dramaturgisch überzeugender Kunstgriff - leider bleibt er der einzige.

Dabei sorgt Nello Santi für eine durchgehörte, immer wieder Nebenstimmen hervorhebende Interpretation, die mit feinen Rubati den dramatischen Fluss gekonnt und überzeugend steuert. Allerdings ist Santi auch bekannt dafür, das absolute Primat der Musik, also des Dirigenten über den Regisseur, zu behaupten und ist somit vielleicht am szenischen Bankrott nicht unschuldig.

«Rampensingen»
Wo die Hauptfiguren agieren sollten, stehen sie vor allem. Das fällt umso mehr auf, als dass sie vokal mit ihren Partien ringen. Für Vincenzo La Scola, nach langer Absenz wieder einmal am Opernhaus, ist Alvaro schlicht zu dramatisch. In seiner grossen Arie - vielleicht der schönsten, die Verdi je für Tenor schrieb - kämpft er um die hohen Töne, um Linie und Farben, sodass die Gestaltung einer inneren Entwicklung oder des Textes unter- oder vergessen geht. Ein paar schöne Momente im Mezzavoce wiegen das nicht auf. Ähnlich die Probleme bei Joanna Kozlowskas Leonora. Sie findet am Anfang schön leise Töne, ihr Sopran klingt in der Höhe aber meist steif und angestrengt - die schwebende Leichtigkeit, die ihre Schlussarie erfordert und die so berührend sein kann, fehlt.

Auch wie es zum gnadenlosen Hass kommt, den Leonoras Bruder Carlo zur Rache antreibt - immerhin ist Rassismus gegenüber dem Mestizen Alvaro ein wichtiger Grund! -, bleibt bei Leo Nucci offen. So stilsicher seine Phrasierung noch immer ist, durchgestaltet wirkt auch sein Rollenporträt nicht. Rasch rettet er sich in bisweilen bellende Dramatik, die Effekt macht, sich aber auch rasch abnutzt. Da ist man froh um Matti Salminen als imposanter Abt Guardian, zu dem sich zuerst Leonore und dann auch Alvaro retten. Inmitten einer drängenden Bettlerschar ruhig in der Bibel lesend, wirkt er allerdings szenisch nicht weniger verloren als seine Kollegen.

Pittoreskes Beigemüse
Noch schlimmer als der tragischen Haupthandlung, die unter dem sich senkenden Meteoriten endet, ergeht es aber der Nebenhandlung. Sie wird zum pittoresken Beigemüse. Ob Gasthausgäste, Soldaten oder Bettler: Der ausgesprochen homogen und plastisch singende Chor agiert praktisch gleich. Dass er zusammen mit den «komischen» Nebenrollen (Stefania Kaluza, Martin Zysset und als Einspringer Paolo Rumetz) sozialen und politischen Hintergrund liefern würde, der über den vordergründigen Kriegsjubel hinausgeht, bleibt völlig ausgeblendet.

Das Volk den Krieg so besingen zu lassen, ohne das in der nächsten Szene gezeigte Elend der Armenspeisung im Kloster mitzudenken, kann man sich eigentlich gar nicht mehr vorstellen. So harmlos hat sich Verdi das mit Sicherheit nicht gedacht!

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Zürichsee-Zeitung

18. 10. 2005 / Werner Pfister

Altbacken bis zum Abwinken

Es ist eine Aufführung wie vor 40 Jahren, als hätte sich seither nichts bewegt: harmlos und voll muffiger Gediegenheit. Das Publikum reagierte mit Buh-Rufen auf die Premiere von Nicolas Joels «La Forza del destino» im Opernhaus.

So beliebt sie beim Opernpublikum ist, Verdis «Forza del destino» hat nicht unbedingt den besten Ruf. Von der Unwahrscheinlichkeit ihrer hirnrissigen Handlung sowie von anderen abstrusen Geschmacklosigkeiten im Libretto war immer schon die Rede. Genau wie Verdis «Trovatore» basiert auch die «Forza» auf einer Textvorlage aus der spanischen (Schauer-) Romantik und oszilliert zwischen frömmelndemKirchenweihrauch und männerkräftigem Kriegsgetümmel in kruder Buntheit, wenn auch bilderstark.

Schwer verständlich jedenfalls, dass Verdi davon offensichtlich angetan war: «Das Drama ist gewaltig, einzigartig und sehr weiträumig. Es gefällt mir sehr.» Doch nach der Uraufführung 1862 in St. Petersburg schien er anderer Meinung zu sein: «Wir müssen eine Lösung finden, um zu viele Tode zu vermeiden», schrieb er seinem Librettisten Piave. Vier Tode waren es in der Erstfassung der Oper, zu viele, sodass Piave kurzerhand den letzten Toten ganz zum Schluss der Oper strich, will sagen: am Leben liess.

Zufall spielt Schicksal
Insgesamt ist das nicht überzeugender, aber was soll schon überzeugen in einem Plot, wo der Zufall blindwütig Schicksal spielt? Gerade dieser Aspekt scheint indes auf den Kern des Werks hinzudeuten: dass dort, wo die Menschen dem puren Zufall ausgeliefert sind, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung hin zu einer Massengesellschaft ansetzt, die keine unverwechselbaren Charaktere mehr kennt, sondern nur noch Typen, austauschbare Träger ebenso austauschbarer Gefühle.

Niemand in dieser Oper entwickelt sich, keiner wird älter, schon gar nicht reifer. Alle bleiben sie, was sie sind, besessen von ihren Obsessionen und Schuldgefühlen. Also ist es letztlich vielleicht gar nicht Zufall, dass sie sich stets wieder über den Weg laufen und sich Liebe, Tod oder Rache schwören, je nachdem? Zudem und à propos Zufall: Ist es am Ende nicht stets das Fälligste, was uns zufällt? Max Frisch hat das so formuliert, in seinem Tagebuch, und das liesse sich - als aktuelles Lebensgefühl aus heutiger Zeit - in einer heutigen Inszenierung durchaus mitdenken.

Nichts jedoch von solchen oder ähnlichen Überlegungen in der Neuinszenierung am Zürcher Opernhaus: Die Bühnenbilder von Ezio Frigerio schwanken unentschieden zwischen Andeutung und symbolischer Bedeutung, zwischen spanischer Schauerromantik und italienischem Risorgimento. Mal schwerlastige Bühnenbauten (vom Schnürboden herab dräuen herunterhängende Felswände), mal atmosphärisches Zitat, und oft erschöpfen sie sich im kunstgewerblichen Fragment.

In solcher Umgebung wirkt die Inszenierung von Nicolas
Joel, als würde er das Stück vom Blatt lesen - den eh spärlichen Handlungsfäden entlang und also an der puren Oberfläche. Das kann in seiner altbackenen Harmlosigkeit auch ins Lächerliche umschlagen: wenn Preziosilla, die als Marketenderin letztlich auf sehr berechnende Weise Kriegsbegeisterung schüren sollte, ihre Hände derart «verführerisch» in die Hüften stützt, mit dem Rocksaum wedelt und auf einen Wirthaustisch (im dritten Akt auf eine Kanone) springt, als käme sie aus, einer Laienaufführung der «Carmen».

Überhaupt hat diese ganze Szene ungefähr den atmosphärischen Charme einer sonntagnachmittäglichen Verzehr-Einkehr in der Gartenwirtschaft. Andere Szenen wirken reichlich «gestellt», weil die Sänger vornehmlich herumstehen ohne nachfühlbaren Bezug zueinander und ohne spürbare innere Notwendigkeit, die sich als existenzielle Dimension dem Zuschauer mitteilen könnte. Die Aufführung ist über weite Strecken ein klirrendes Degen-und-Mantel-Stück aus längst vergangenen Zeiten.

Achtbares Rollendebüts
Zudem, so möchte man sagen, hat auch der Verdi-Gesang schon bessere Zeiten erlebt. Joanna Kozlowska gibt als Leonora zwar ein achtbares Rollendebüt, setzt ihren klaren Sopran aber zu oft unter Druck, was der Höhe nicht bekommt und der Tiefe hässliche Farben beimischt. Vincenzo La Scola debütiert ebenfalls in der Rolle des Don Alvaro, doch kann er kaum überzeugen. Zu eng klingt das Timbre, oft an der Schmerzgrenze zum Verhärten hin. Auch Leo Nucci, ein längst erfahrener Don Carlo, bleibt in dieser Aufführung merkwürdig blass. Kaum eine Spur von Belcanto- Linie in «Urna fatale», viele Phrasen wirken einseitig steifleinen. Sicher, da sind die hohen Top-Töne bis hinauf zum As, zum A, aber sie wirken mittlerweile wie losgelöst vom Rest - aufgesetzt eben. Matti Salminen gibt insgesamt einen würdigen Padre Guardiano, doch auch bei ihm ist zuweilen eine Tendenz zum Forcieren spürbar, die Vokalverfärbungen zur Folge hat.

Für den erkrankten Carlos Chausson übernahm Paolo Rumetz den Fra Melitone: mit überdrehter Allerweltskomik, aber stimmlich einigermassen sattelfest. Auch Stefania Kaluza singt die Preziosilla tadellos; und Martin Zysset gelingt in der kleinen Partie des Mastro Trabuco das kleine Kunststück, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. Ein Sonderlob, und zwar ein grosses, gebührt dem Chor und Zusatzchor des Opernhauses; hier hat Jürg Hämmerli Einstudierungsarbeit geleistet, die einen Massstab setzt.

Nello Santi
Am Pult steht Nello Santi. Das garantiert für Partiturkenntnis und Wissen um die Aufführungspraxis, geschöpft aus Tradition und Erfahrung. Dass er die berühmte Ouvertüre erst vor dem zweiten Akt spielt statt zur Eröffnung der Oper, mag zwar mit einer (vergessenen?) Tradition zu tun haben und vor allem damit, dass sich das Orchester dann schon reichlich eingespielt hat. Dennoch, würden wir alle wichtige Musik erst dann spielen, wenn die Musiker sich warm genug fühlen, kämen wir wohl nie zu einem Anfang - und der Oper (dem ersten Akt) fehlt dieser Anfang doch schmerzlich.

Kein Zweifel aber, Maestro Santi ist als Verdi-Dirigent eine Offenbarung. Nicht nur gelingt es ihm mühelos, die musikdramatische Grossarchitektur des Werks immer wieder zu expressivem Blühen zu bringen. Sondern er formt zugleich das instrumentale, das emotionale Detail mit einem Maximum an Sorgfalt und sinnfälliger Transparenz. Hier, im Orchestergaben, kommt das Drama zu seinem Recht: Die Musik vibriert vor Spannung, und wo es die Partitur fordert, steigert Santi den Ausdruck bis zur aggressiven Vitalität. Das geht unmittelbar unter die Haut - aber leider nur das.

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