Aufführung
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12. 6. 2004 (Première)
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Musikalische Leitung: Marc Minkowski
Inszenierung und Kostüme: Laurent Pelly
Bühnenbild: Chantal Thomas
Choreographie: Lyonel Hoche
Regiemitarbeit und Dramaturgie: Agathe Melinand
Lichtgestaltung: Joel Adam
Chor: Jürg Hämmerli
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Alphise: Annick Massis
Sémire / Nymphe: Elena Mosuc
Polimnie / L'Amour: Martina Janková
Abaris: Richard Croft
Calisis: Tom Allen
Borée: François Lis
Borilée: Oliver Widmer
Adamas: Jean-Sébastian Bou
Apollon: Gabriel Bermúdez
SYNOPSIS - LIBRETTO
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Rezensionen
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14. 6. 2004
Rameaus Farbenreichtum mit ironischen Tupfern
Barockoper «Les Boréades» mit Marc Minkowski am Opernhaus Zürich überzeugte
TORBJÖRN BERGFLÖDT
Lange Jahre hat im Opernhaus Zürich, wenn man von der Studiobühne absieht, das weite Feld der Barockoper brach gelegen. Auf den Nachruhm des Monteverdi-Zyklus begann sich eine Patina-Schicht zu legen. Inzwischen ist das Haus (wieder) zu einer Adresse geworden für A-Ligisten des einschlägigen Repertoires. Und dass Dirigenten wie William Christie und Marc Minkowski ihre Formationen Les Arts Florissants und Les Musiciens du Louvre gar nicht erst mitzunehmen brauchen, weil mit der Orchestra La Scintilla ein hauseigenes Spezialensemble schon da ist, gibt der Sache einen besonderen Dreh.
Sturmmusikalisches
Diesmal hat Minkowski für «Les Boréades» plädiert. Und an der Premiere durften die originalen beziehungsweise original nach- oder zurückgebauten Instrumente ihre Tugenden offen legen, lockt doch gerade hier, bei Jean-Phi- lippe Rameau, weniger das Melos, die Kantilene, als vielmehr ein besonderer Farbenreichtum. Mit Verve gestalteten die Musikerinnen und Musiker im hochgefahrenen Orchestergraben die rhythmisch und harmonisch tiftelige Partitur. So kamen auch die barockmusikalischen Topoi schön zum Klingen.
Besonders prominent Sturmmusikalisches. Denn diese Oper handelt davon, wie Alphise, Königin von Baktrien, sich dem Zwang widersetzt, einen der beiden Söhne des Nordwindgottes Boreas zu heiraten. Staatsräson versus «raison d´amour»? Feminismus avant la lettre? Mag ja alles sein. Indem aber Apoll bekennt, er habe den von Alphise geliebten Priesterzögling Abaris mit einer Nymphe aus dem Blute des Boreas gezeugt, schnurren die vermeintlich so kraftvoll intonierten vorrevolutionären Motive in dem Werk aus Rameaus Todesjahr 1764 auf ein handlicheres Format zusammen.
Laurent Pelly, der in der Koproduktion mit der Lyoner Oper für Inszenierung und Kostüme verantwortlich zeichnet, und das weitere Regieteam samt dem Choreografen Lionel Hoche halten den noch als «tragédie lyrique» firmierenden Gattungsmischling ins Licht einer stilisierend-abstrahierend designten und fast klassizistisch anmutenden Aufbereitung samt ironischen Tupfern. Kein lastendes Mobiliar. Kein verzichtbares Requisit. Kein rauschendes Kostümfest. Wie schwerelos öffnen und schliessen sich abgerundete grosse Wände.
Trotzdem barockes Maschinentheater
Dem barocken Maschinentheater wird dennoch Genüge getan: mit gegenläufig rotierenden Drehbühnen, Projektionen vor allem zum Thema Wind, auf die Bühne gepustetem Theaternebel, einem riesigen Ventilator im Reich des grausamen Boreas und dem Deus-ex-machina-Auftritt Apolls vom Schnürboden herab. Gelungen auch die zwischen Alt und Neu changierenden Tanzauftritte des Junior-Balletts.
Stilsicher deklamierend gab Annick Massis die Alphise. Der Abaris des Tenors Richard Croft erinnerte zu Recht an den mutgeprüften Tamino der «Zauberflöte». Überzeugend auch Tom Allen und Gabriel Bermudez als die Alphise nachstellenden Boreaden, Jean-Sébastien Bou, Elena Mosuc, François Lis und Martina Jankova in den weiteren Rollen sowie der von Jürg Hämmerli einstudierte Chor.
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14. 6. 2004
Französisches Opernwochenende: «L’Africaine» in Strassburg, «Les Boréades» in Zürich
Auch Opern-Frauen haben ein Recht auf freie Gattenwahl
Als die Oper «Les Boréades» von Jean-Philippe Rameau im Herbst 1764 endlich uraufgeführt werden konnte, war der Komponist bereits tot. Hundert Jahre später, 1865, erblickte die Oper «L’Africaine» in Paris das Licht der Opern-Welt. Auch ihr Komponist, der aus Berlin stammende Giacomo Meyerbeer, war zuvor gestorben. Beide französischen Fünfakter werden äusserst selten gespielt und hatten am Freitag und Samstag in Strassburg und Zürich Premiere. Zufall? Zufall. Und kein Grund, die Parallele weiter zu strapazieren.
Von Sigfried Schibli
Spätwerke haben es manchmal in sich. Sie erreichen selten ganz neue Gestade, fügen häufig im Rückblick zusammen, was sich ein Komponistenleben lang angesammelt hat an Erfahrungen. Zum Beispiel mit der «Grand Opéra», dem französischen Operntypus, an dem im mittleren 19. Jahrhundert weder Berlioz noch Wagner oder Verdi vorbeikamen. Meyerbeer, erst preussischer Generalmusikdirektor und dann Grossmeister der französischen Oper, hat in seinem Alterswerk «L’Africaine» noch einmal zusammengebracht, was auf einer Bühne Platz hat: Historie (das kolonialistische Portugal), persönliche Tragödien (die Liebe der «Afrikanerin» Selika zum Eroberer Vasco da Gama), Massenszenen (Matrosen, Soldaten, Wilde), Wind und Wetter.
All dies hat Regisseur Jean-Claude Auvray an der Strassburger Rheinoper zu einer Revue der Effekte zusammengeführt. Am Ende der musikalisch von Edward Gardner geleiteten Produktion muss man mit leisem Bedauern sagen: Viel Theater und viel Aufwand an Kostümen, Bühnenprospekten und an Noten, aber kaum eine nachhaltige Wirkung.
Das Recht aufs Spektakel
Das beginnt durchaus intelligent. Auvray gaukelt uns nichts vor, sondern lässt das Theater Theater bleiben. Der Anfang spielt vor dem geschlossenen Vorhang. Die private Ebene - die Liebe von Ines zum verschollen geglaubten Marineoffizier Vasco - wird abgetrennt von der politischen Sphäre. Diese tritt im zweiten Bild in Erscheinung: Der portugiesische Staatsrat tagt, symbolkräftig rund um eine Erdkugel aufgestellt, und verweigert Vasco die von ihm gewünschte neuerliche Expedition.
Danach fordert die Grand Opéra ihr Recht aufs Spektakel, und die Strassburger Aufführung folgt diesem Imperativ, als wollte sie uns Einblick ins Opern-Empfinden von Anno dazumal geben. Bewegte Bilder von der Seefahrt unter Don Pedros Kommando, ein Sturm, der das Theater ins Wanken zu bringen scheint, der Überfall der Inder auf die portugiesische Flotte, ihre seltsamen Kostüme und befremdlichen Rituale, schliesslich das einsame Verglühen der vermeintlichen Sklavin und wirklichen Königin Selika unter dem todbringenden Manzanillobaum. Die seelischen Innenräume werden von Bühneneffekten erdrückt. Lebendig werden die Figuren allenfalls in den Monologen und Duetten etwa von Selika und Vasco im Gefängnis. Am Ende geht Selika ins Meer, als wäre sie Wagners «Holländer»-Senta.
Oper fällt hier ins Kostüm- und Kulissen-Theater zurück, in technisch unbeholfenes Breitleinwandkino. Es fehlt an präziser Personenführung und im Ballett der Inder an Feinschliff. Dafür wartet die Rheinoper mit Stimmen auf, welche diese schwer zu singende, vertrackte Musik solide umsetzen: allen voran die Frauenrollen der Ines (Nicoleta Ardelean) und Selika (Sylvie Brunet), aber auch der markige Bass von Nicolas Testé in der Partie des Don Pedro und Bojidar Nikolovs kräftiger Vasco-Heldentenor.
Das kolossale Relikt
Jean-Philippe Rameaus letzte Oper «Les Boréades» spielt nicht im historischen, sondern in einem mythischen Raum. Auch hier geht es um eine erzwungene Heirat - die baktrische Königin Alphise muss laut der Tradition einen der Söhne des Nordwind-Gottes Borée heiraten, obwohl sie den Priesterzögling Abaris liebt. Anders als bei Meyerbeer endet die Geschichte mit einem Happy End: Gott Apollo erscheint «ex machina» und outet sich als Vater des Abaris, womit dieser für die Königin heiratsfähig ist.
Es ist ein kolossales Relikt, diese nachgelassene Rameau-Oper mit dem märchenhaften Götterschluss. Man bedenke, dass die Französische Revolution schon an die Tür klopfte - während der Proben zur Uraufführung von «Les Boréades» gab es Streikdrohungen der Tänzer. Auch musikalisch ist «Les Boréades» ein Spätling; zu jener Zeit hatten die Komponisten andernorts den Barockstil überwunden, an dem Rameau mit sympathischer Treue festhielt, noch einmal die alten Tanzsätze und den geschärften Klang der Barockinstrumente auskostend.
Die raffinierte Regie
Das möchte wohl auch das Zürcher Opernhaus, das für solche Zwecke eigens das Barockorchester «La Scintilla» gegründet und den Dirigenten Marc Minkowski engagiert hat. Ein mit heiligem Eifer ans Werk gehender Spezialist, was er unter anderem in der ebenfalls mit Laurent Pelly gestalteten Rameau-«Platée» in Paris und Genf bewiesen hat. An der Premiere haperte es gleichwohl nicht selten mit den Tempi und dem Zusammenspiel, so dass die Aufführung musikalisch etwas unfertig wirkte.
Wunderbare Sänger gaben ihr Bestes: Annick Massis als koloraturensichere Königin Alphise, aber auch die auf amüsant unterschiedliche Weise um sie werbenden Boreaden-Söhne Calisis und Borilée (Tom Allen, Gabriel Bermudez) und der sehr bewegliche hohe Tenor von Richard Croft in der Partie des Wundermannes Abaris.
Laurent Pelly ist als Regisseur ein Garant für unorthodoxes, fantasievolles Musiktheater, das nichts der Routine überlässt. So auch hier: Die Inszenierung steckt voller unerwarteter, raffiniert ausgeleuchteter Details. Die beiden wie Comicfiguren gezeichneten Boreaden-Buhler beschnuppern Alphise, als wären sie kleine Hunde. Ein androgyner Treppen-Amor (Martina Jankova) überreicht Alphise den Pfeil, der das Geschick wenden soll. Die widerspenstige Alphise wird in eine Art Windrad eingesperrt, technisches Sinnbild für den Windgott Boreas (Bühne Chantal Thomas). Und Königin Alphise mit ihrer silbernen Krone muss sich dem Zugriff der Männer immer wieder förmlich entwinden.
Der Reiz der Tänze Ein Gutteil der Stücke in «Les Boréades» sind Tänze, und man war gespannt, welchen Weg der Choreograf Lionel Hoche wählen würde. Das Ergebnis war eine amüsante Kombination von klassischen Ballettposen und frei erfundenen Bewegungsformen, die keiner feststehenden Grammatik folgen, aber im Ausdruck verständlich und frisch wirken. Seine Tänze wollen nichts bedeuten und beweisen, sie feiern die Musik in ihrer Farbigkeit, Originalität und Spannkraft. Häufig werden die Sänger in den Tanz einbezogen, und dass dies nie lächerlich wirkt, ist eine grosse Leistung des Tanzmeisters.
Es ist Ballett, das im Extrem auch den Stillstand zulässt: Zu einem von köstlichen Fagottklängen begleiteten Tanz im dritten Akt stellen sich die Tänzerinnen und Tänzer wie zu einem Gruppenfoto auf. Keep smiling, please!
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14. 6. 2004
Stürme im musikalischen Kosmos
Eine Barockoper, die das Publikum im Sturm erobert. Das ist im Falle der «Boréades» im Opernhaus wörtlich zu nehmen: Die Winde gehören zu den Protagonisten der Oper, für die es stürmischen Beifall gab.
Herbert Büttiker
Das Orchester «La Scintilla» des Opernhauses ist gefordert, wenn der Nordwind wütet. Schnelle Läufe in vertrackter Rhythmik sind gefordert, hellwaches Agieren und Reagieren im Wechsel der Instrumentalgruppen. Marc Minkowski geht das alles forsch an, aber nicht aggressiv und scharf, sondern musikantisch furios, dabei weich abgefedert und auf eine Klangfülle bedacht, die ins Elementare geht. Virtuose Bläserarbeit bis hinunter zu den Fagotten ist dank ausgezeichneter Balance omnipräsent, und einzig die Flöten drohen in den wirbelnden Momenten ein wenig verdeckt zu werden. Aber Boreas, der zornige Gott des Nordwindes, hat einen Bruder. Zephir, der Gott des milden Westwindes, inspiriert in der Musik die Gegenmächte. Die Momente zuversichtlicher Harmonie und zeitentrückter Ruhe gehören mit zum Berückenden, was Minkowski und das Orchester aus der Partitur herauslesen, die eben auch eine Partitur über die Musik ist.
Rameaus letztes Werk, das nicht mehr zur Aufführung kam, nachdem der Komponist während der Vorbereitungen am 23. August 1764 gestorben war, gibt vielerlei Rätsel auf, was seine Entstehung betrifft, das Libretto, das dem Freimaurer Louis de Cahusac zugeschrieben wird, das Verschwinden in der Versenkung, aus der es erst 1975 geholt wurde, so dass die Zürcher Koproduktion mit der Opéra de Lyon erst die vierte Inszenierung der «Boréades» überhaupt ist. Es scheint ganz so, dass sich Jean-Philippe Rameau, dieser Theoretiker und Philosoph unter den Komponisten, in seinem letzten Werk ganz bewusst auf die Grundfragen seiner Kunst konzentriert hat: Was ist Musik, was kann Musik? In der Metaphorik der Winde lotet er ihre Tempi, ihr Temperament aus, und zentral visiert er ihr Geheimnis an, wenn er im vierten Akt die Musen als Allegorien auftreten lässt. Die Entrée der Polyhymnia begleitet den Helden die «Zauberflöte» lässt grüssen auf seinem gefährlichen Gang ins Reich des Boreas, wo es die entführte Geliebte zu befreien gilt. Eingeschrieben ist ihr ein wunderbarer Moment musikalischer Offenbarung, und vielleicht darf man auch das Lob der Aufführung und den Geist, in dem sie nachklingt, in diesem Wort zusammenfassen: Offenbarung, an die Marc Minkowski zusammen mit dem Team Laurent Pelly (Inszenierung und Kostüme) Chantal Thomas (Bühnenbild) und Joël Adam (Lichtgestaltung) in dieser zentralen Szene heranführt.
Barocktheater und Aufklärung
Dass solches gelingt, hat damit zu tun, dass die Inszenierung Rameaus Mythologie ernst nimmt und sie gleichzeitig so vereinfacht und konzentriert, dass die Bühne frei bleibt für die Musik und ihre elementaren Wirkungen. Die Geschichte, die es zu erzählen gilt, ist einfach genug: Die Königin Alphise müsste einen der Söhne des Boreas zum Mann nehmen, so will es das Gesetz. Sie weigert sich, weil sie Abaris liebt, den unbekannten Zögling des Priesters, und wird von Boreas gewaltsam entführt. Abaris kann dank Amors Zauberpfeil den Sturmgott ausser Gefecht setzen, den Konflikt aber löst Apollo mit der Mitteilung, Abaris sei sein Sohn, den er mit einer von Boreas' Nymphen gezeugt habe. Damit ist der dynastischen Forderung Genüge getan, die Liebe, die sich bewährt hat, triumphiert, und das Licht der Aufklärung (Apollo!) leuchtet.
In der einfachen Handlung schafft das Libretto die Gelegenheit zu grösserem Schaugepränge durch die Sturmszenerie und durch allegorische Ballette. Es ist bemerkenswert, dass das Personal der mythologischen Handlung sogar selber ein wiederum mythologisches Ballett aufführen lässt. Theater im Theater: Calisis und Borilée, die beiden Söhne des Boreas und Freier der Alphise, richten mit der Szene der «Entführung der Oreithyia» eine letzte Warnung an die widerspenstige Königin. Angesichts solcher Wucherungen des Barocktheaters reagiert die Inszenierung mit einer gewissen Kargheit, mit dem Luxus der einfachen Formen und Farben (Kostüme!), aber auch mit feinem Augenzwinkern: Im fünften Akt überspielt sie mit Boreas' Propeller-Ungetüm und Apollos umqualmter Herabkunft aus dem Schnürboden die Grenzen von Götter- und Fantasy-Welt, ohne den Ernst des Stückes damit zu gefährden.
Ballett des Bühnenbildes
Der Verzicht auf die original barocke Bilderfülle zeigt sich auch darin, dass viele Ballettmusik rein «sinfonisch» interpretiert wird. Der «Tanz» der Bühnenskulptur mit ihrem Farbenspiel und den Wetterprojektionen auf ihren grossflächigen beweglichen Elementen scheint hier das allegorische Ballett weit gehend zu ersetzen, und wo es dennoch einbezogen ist (Choreografie: Lionel Hoch), gehört es in seiner verhuschten Körpersprache wohl nicht zum Überzeugendsten der Aufführung, vielleicht allein schon deshalb, weil das breithüftige Barockkostüm der Tänzerinnen das moderne Bewegungsrepertoire allzu sehr ins Groteske ausformt.
In einem grundsätzlicheren Sinn ist die Inszenierung freilich gründlicher vom Tanz geprägt, als man es erwartet: in der Bewegungssprache der Protagonisten, der Protagonistin zumal. Annick Massis in der Rolle der Alphise ist geradezu ein Phänomen, was die mühelose und scheinbar natürliche Verbindung schwieriger Gesangsexkursionen und eines anmutig-gelösten Spiels betrifft. Als choreografisch geformt und so dem Geist der französischen Barockoper nah erlebt man auch die weiteren Handlungsträger, insgesamt ein musikalisch und spielerisch höchst agiles Ensemble, das alte Dogmen historischer Aufführungspraxis hinter sich gelassen hat und wenig Wünsche offen lässt.
Als Alphises Partner Abaris gibt Richard Croft sein Bestes allerdings mit der beachtlichen Verve seines Tenors, mit dem schwebenden Klang seines Mezzavoce zumal in den lyrisch verinnerlichten Momenten. Hingegen gewinnen die beiden Boreaden, Tom Allen als Calisis und Gabriel Bermudéz als Borilée sowie Borée selbst (François Lis) ihr Profil ganz aus dem sängerisch-darstellerischen Impuls und aus der Maske: Alles arbeitet gekonnt darauf hin, die egozentrischen Göttersöhne zwischen Dämonie und Groteske in der Schwebe zu lassen. Mit episodischen Auftritten setzen Elena Mosuc (Sémire/Nymphe) und von Martina Jankova (L’Amour/Polymnie) helle Glanzlichter ins szenische wie musikalische Bild, und Jean-Sebastien Bou sichert dem Priester Adamas wie Apollo die Würde, auch wenn er vielleicht in den tiefen Tönen zu büssen hat, was den hohen Stimmen zugute kommt: dass Minkowski das Orchester um einen ganzen Ton tiefer gestimmt hat als das moderne Orchester.
Apotheose der Musik
Einen wesentlichen Beitrag im musikalischen Kosmos steuert mit Bravour auch der Chor bei, zumal zum dramatischen Höhepunkt des Werks mit Sturmmusik und Schreckenschor im Übergang vom 3. zum 4. Akt. Man hört ihn mit «Idomeneo» im Ohr und staunt, wie weit Rameaus bewegliches Formenspiel gekommen ist, das die Grenzen zwischen Arienformen und Rezitativ, Instrumental-, Tanz- und Chortableau verwischt und dabei doch weniger das Drama als wie jetzt auch diese Premiere in ihrem enthusiastischen Musizieren nahe legt die Apotheose der Musik im Sinne hatte.
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15. 6. 2004
Lobgesang auf die Freiheit und die Liebe
Ganz von der Musik her inszeniert Laurent Pelly «Les Boréades» von Jean-Philippe Rameau. Er und Marc Minkowski zeigen, wie modern Barockoper sein kann.
Zwar ist es auch hier ein Deus ex Machina, der am Ende den glücklichen Ausgang der «Tragédie-lyrique» herbeiführt: Apollo steigt herab und verkündet, Abaris, der von Alphise, der schönen Königin von Baktrien (heute Afghanistan) geliebte unbekannte Fremde, habe göttliches Blut in den Adern, denn er sei von ihm mit einer Nymphe aus dem Geschlecht des Boreas gezeugt worden.
Doch in den rund zwei Stunden zuvor findet zwischen dem schrecklichen Windgott Boreas und dessen Söhnen einerseits und der Königin und deren Geliebtem andererseits ein Kampf statt, der an Dramatik kaum zu überbieten ist und den Zuhörer unmittelbar in Bann schlägt.
Musikalisch-szenische Einheit
Wie ist das möglich bei einer antik-mythologischen fünfaktigen Barockoper mit ihren Da-capo-Arien und mit einem von freimaurerischen Ideen geprägten Libretto (angeblich von Louis de Cahusac), dessen Handlung immer wieder durch Tänze unterbrochen wird? Es gelingt, weil zum einen Jean-Philippe Rameau in diesem, seinem letzten, erst im späten 20. Jahrhundert uraufgeführten Bühnenwerk die mit der Barockoper verbundenen Klischees überwunden hat, und zum andern, weil hier ein einsichtiger Regisseur und ein fanatischer Dirigent in idealer musikalisch-szenischer Zusammenarbeit eine Lösung gefunden haben, welche den zeitlosen Kern dieser Barockoper herauskristallisiert.
Zugute kommt ihnen dabei die hervorragende Besetzung der pausenlos auf der Bühne stehenden Alphise durch die französische Sopranistin Annick Massis. Keine ausgesprochene Barockspezialistin, sondern auch im Belcanto-Fach erprobt, stellt sie einen Menschen aus Fleisch und Blut dar, dem man abnimmt, dass er seinen eigenen Willen gegen den Machtapparat durchsetzt und bis zum Äussersten geht, um die Liebe und die Freiheit zu verteidigen - und dies, ohne je die stimmliche Schönheit zu schmälern. Richard Croft als Abaris ist ihr stimmlich und darstellerisch nicht weniger eindrücklicher Partner, François Lis ein Furcht erregender Windgott Boreas.
Schnörkellose Handlung
In dieser Koproduktion mit der Opéra Lyon (wo die Premiere bereits im Mai stattfand) fällt die Einfachheit sowohl im Bühnenbild (Chantal Thomas) mit seinen drehbaren, ellipsenförmigen Stellwänden als auch bei den vom Regisseur selbst entworfenen Kostümen auf. Sie führt ohne Umwege und ohne dekorative Schnörkel geradewegs auf die Handlung zu, in die auch die zahlreichen Tänze mit dem Junior Ballett (Choreografie: Lionel Hoche) und der von Jürg Hämmerli einstudierte Chor ebenso eng wie locker verwoben sind.
Das ermöglicht einen flüssigen Handlungsablauf ohne Stockungen, jedoch mit einer Steigerung nach der Pause, bei der Sturmszene in dem von Boreas zerstörten Umfeld, die einem schier den Atem verschlägt.
Entfesseltes Orchester
Dabei gibt hier das von Marc Minkowski entfesselte Orchestra «La Scintilla» der Oper Zürich den Ausschlag. Ihm ist es hauptsächlich zu verdanken, dass diese Koproduktion doch einen eigenen Charakter aufweist. So sehr Minkowski das auf historischen Instrumenten und einen ganzen Ton tiefer als moderne Klangkörper spielende Orchester mit seinen Temperamentsausbrüchen zu Hochspannungen antreibt, die leisen, filigranen Momente gestalten sich nicht weniger überzeugend. Und der federnde Schwung in den tänzerischen Zwischenspielen, der charmante Zauber, den er handkehrum der Partitur entlockt - sie sind wohl nur von einem französischen Dirigenten in dieser unnachahmlichen Art zu bewerkstelligen.
FRITZ SCHAUB
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14. 6. 2004
Rameau und die Wucht des Temperaments
«Les Boréades» im Opernhaus Zürich
Wild geht es zu in der Geschichte von Boreas, dem Nordwind, der einen seiner beiden Söhne mit der schönen Alphise verheiraten möchte, damit aber scheitert, weil die Beglückte schon einen anderen gewählt hat und unerbittlich bleibt. Ohne Blatt vor dem Mund wird hier der absolute Machtanspruch des Herrschers kritisiert, und laut werden die Vorzüge der Freiheit gepriesen. Das mochte 1763, als die Pariser Oper «Les Boréades» von, vermutlich, Louis de Cahusac und Jean-Philippe Rameau in Arbeit nahm, nicht nach jedermanns Geschmack gewesen sein. Als der Komponist 1764, achtzig Jahre alt, sehr berühmt, aber nicht ganz unumstritten, überraschend starb, wurde das Stück jedenfalls sogleich abgesetzt. Es verschwand in den Archiven und kam erst gut zweihundert Jahre später zur Uraufführung: in einer von John Eliot Gardiner dirigierten Produktion des Festivals von Aix-en-Provence im Sommer 1982.
Tiefe Stimmung, hohe Temperatur
Wild geht es auch zu bei der jüngsten Inszenierung von «Les Boréades», wie sie das Opernhaus Zürich bietet. Der Dirigent Marc Minkowski setzt klar auf Tempo, und das hat mitunter seine Nachteile. Schon in der Ouverture ist zu hören, wie das Orchester «La Scintilla» der Oper Zürich an die Grenzen gerät; die Hörner haben Mühe, zu Ton zu kommen, und die Sechzehntel-Läufe des Nordwinds in den Geigen werden zu Glissandi. Auch sonst manifestiert sich einige Grobheit; auch wenn klar zu verfolgen ist, welch besondere Rollen die Klarinetten und die Fagotte in dieser Partitur einnehmen, wirkt der Klang doch sehr auf die Aussenstimmen fokussiert. Auch die Contredanse am Schluss des ersten Akts nimmt Minkowski so schnell, dass der Reiz der rhythmischen Gegenläufigkeit unterbelichtet bleibt.
Immerhin sind bis hierhin schon eindrückliche sängerische Leistungen zu verzeichnen. In der zentralen Partie der standhaften Königin Alphise gibt Annick Massis zu erkennen, dass sie das Repertoire der Verzierungen beherrscht; zudem operiert sie mit einer reich bestückten Palette an Farben und einigem Liebreiz. Von den beiden Söhnen des Nordwinds darf sich Calisis in der besseren Position fühlen, weil Tom Allen den Anforderungen, die an einen französischen Tenor, an einen Haute-Contre, gestellt sind, blendend meistert, während der Bariton Gabriel Bermúdez als Borilée einförmiger wirkt. Bald erscheint nun aber Abaris, der geheimnisvolle Fremde, den die Königin liebt, und da schlägt die Stunde von Tom Allen, der Kraft und Schmelz verströmt. Edel Jean-Sébastien Bou in der Rolle des Hohepriesters Adamas, mit ihrem beträchtlichen Vibrato stilfremd dagegen Elena Mouc als Sémire, Dienerin und Vertraute der Königin.
Unterdessen spitzt sich die Lage zu. Das Junior-Ballett des Opernhauses, von Lionel Hoche angeleitet, tanzt sich dekorativ und dementsprechend unverbindlich durch die musikalisch anspruchsvollen Divertissements, der von Jürg Hämmerli einstudierte Chor lobt die Charakterfestigkeit der Königin - doch dann bricht der Gewittersturm aus, der alles durcheinander bringt. Auch die Musik, denn in diesen Momenten legt der Dirigent, heftig um sich schlagend, den Ausdruck ganz auf die Entfesselung der Kräfte an. Das hat zur Folge, dass sich bei der «Suite des vents» weder Farbe noch Form in ihrem Raffinement wahrnehmen lassen, dass aber auch insgesamt eine Pauschalität ins Musizieren kommt, die wenig später ihre Folgen hat. Das schönste Stück dieser von musikalischen Schönheiten überreichen Oper, der Auftritt der Muse Polyhymnia (Martina Janková), gerät nämlich blass, weil die Spannungen im Inneren der einzelnen Stimmen wie jene zwischen ihnen zu wenig ausgearbeitet sind. So erstaunt auch nicht, dass der Bariton François Lis, wenn am Ende Borée in Person auftritt, so dröhnt, als wäre er Boris Godunow.
Eine Windmaschine
Seltsam auch, dass im fünften Akt, den Rameau durch ein verrücktes, stockendes Vorspiel einleitet, die von Chantal Thomas erdachte Szenerie mit einem Mal ganz konkret wird. Bis dahin waren es gebogene Wandelemente, die im Vordergrund standen; sie wurden von den Darstellern wie beiläufig, manchmal aber mit sichtbarem Kraftaufwand in neue Konstellationen geschoben und dienten auch als Projektionsfläche für Videosequenzen (Charles Carcopino) mit Wolkenbildern. Die Welt des Boreas wird nun aber von einem gewaltigen Propeller dominiert, in den die entführte Königin Alphise gesperrt wird - bis der Deus ex machina erscheint und das glückliche Ende einleitet. Auch das geschieht so harmlos und beiläufig, wie sich die Inszenierung von Laurent Pelly überhaupt gibt. Welche Brisanz in «Les Boréades» steckt, wie diese späte Blüte der Tragédie lyrique zur Geschichte der Gattung und zu den stilistischen Strömungen um 1760 steht - nichts davon spricht der französische Regisseur (und Kostümbildner) in dieser für Lyon und Zürich gemeinsam entworfenen Inszenierung an. Wie das Stück wirken kann, das war 1999 bei den Salzburger Pfingstfestspielen (mit Simon Rattle und den Herrmanns) oder letztes Jahr im Pariser Palais Garnier (mit William Christie und dem Choreografen Edouard Lock) zu erleben; damit lässt sich die wenig inspirierte und unsorgfältig ausgearbeitete Zürcher Produktion allerdings auf keiner Ebene vergleichen.
Peter Hagmann
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15. 6. 2004
Kühl im Nordwind
«Les Boréades» von Rameau am Opernhaus Zürich
Mit Dirigent Marc Minkowski und Regisseur Laurent Pelly hat Zürich ein Dreamteam für Rameaus «Les Boréades» gefunden - begeisternd wurde der Abend trotzdem nicht.
VERENA NAEGELE
Die Handlung ist - zumal für eine Barockoper - schnörkellos. Alphise, Herrscherin Bakriens, darf laut Tradition nur einen Sohn des Nordwind-Gottes Boreas heiraten. Doch sie liebt mit Abaris einen anderen und verzichtet lieber auf den Thron, als dem Göttergebot zu folgen. Trotz der Rache von Boreas hält sie an ihrem Entschluss fest. Nach der Zerstörung durch die Naturgewalten leitet dann das Geständnis Apollos die Befreiung ein: Abaris ist der Sohn einer Boreas-Nymphe.
Es ist ein Libretto, das Rameaus Zeichnungslust im Rezitativischen wie in Arien und Szenen so richtig anstachelt: Das Brausen von Wind und Wellen mittels Windmaschine oder rasend schnellen Tonrepetitionen, eine ausgefeilte Affektkunst, ein farbenprächtiges Orchester mit dem raffinierten und witzigen Einsatz der Bläsergruppe, dies sind die Qualitäten des Stücks. Die Musik steht im Mittelpunkt - macht aber gerade deshalb der Szene das Leben schwer.
Auf Menschenmass
Laurent Pelly, der sich mit frechen Inszenierungen einen Namen gemacht hat, vertraut zu sehr der Magie der Musik unter Marc Minkowskis virtuoser Stabführung. Das Grundproblem seiner Regie ist die Aufhebung der Dualität zwischen Götter- und Menschenwelt. Rameau verzichtet auf den üblichen Prolog zur Exposition der Göttergesetze, und Pelly nimmt dies in sein optisches Konzept auf. So herrscht einzig das kühle Reich der Götter-Nordwindwelt durch die Farben Blau und Grün, die sich von den Kostümen über die riesigen Rundwände bis zur Beleuchtung ziehen. Die Grosszügigkeit der Bühne ist gekoppelt mit grossen Gesten, entsprechend der allegorischen Dimension barocken Denkens. Affekte werden durch die auf Veräusserlichung von Regungen abzielenden, abstrakten Tänze (Choreographie Lionel Hoche) dargestellt oder der Musik überlassen. Das Team wagt gar, orchestrale (Tanz-)Intermezzi als Standbilder einzufrieren.
Durchhänger waren so trotz stimmiger Momente unvermeidlich und wurden von der musikalischen Interpretation nicht ganz wettgemacht.
Tief dunkel gefärbt
Dies mag mit der Stimmung von 392 Hz zusammenhängen: einen Ganzton tiefer und gewöhnungsbedürftig. Orchester und Ensemble kamen unterschiedlich damit zurecht. Nach einer verpfuschten Ouvertüre steigerte sich das Orchester «La Scintilla» merklich, konnte aber wie die Sänger gewisse Mühen mit der dunklen Färbung nicht überspielen. Herausragend, brillant und geschmeidig sangen Elena Mosuc (in Nebenrollen) und Richard Croft (Abaris). Annick Massis (Alphise) begeisterte mit stupender Agilität, die sie in ihrer Kampf-Arie mit Blitz und Donner einbrachte, während die beiden Boreas-Söhne Tom Allen und Gabriel Bermudez stimmlich unausgeglichen waren - Rameaus Primat des Harmonischen bestraft jede Intonationstrübung und betört nicht mit süssem Melos. Erstaunlich stilsicher wirkte der Chor. Marc Minkowski riss mit seinem Feuer, seiner Klarheit in der rhythmisch diffizilen Partitur den Abend heraus.
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14. 6. 2004
Marc Minkowskis Zürcher Sternstunde
Mit «Les Indes Galantes» vorige Saison hatte das Opernhaus Zürich schon einmal eine Oper von Jean-Philippe Rameau erfolgreich auf die Bühne gebracht. Jetzt wurde «Les Boréades» zur Sternstunde.
von reinmar wagner
Laurent Pelly, Marc Minkowski und Rameau, diese Kombination ist untrennbar verknüpft mit jener umwerfend komischen Pariser «Platée»-Inszenierung, die in halb Europa für Furore sorgte. Wer nun diese Zürcher Inszenierung sieht, würde nicht auf Pelly tippen, sondern hin und wieder sogar eher auf Robert Wilsons typische Körpersprache.
Aber nur hin und wieder. Pelly pflegt zwar einen für ihn ungewohnt abstrakten, ästhetischen Stil, ist aber Theatermensch genug, um die szenischen Aktionen dieses Stücks nicht zu verschenken, das mit seiner antiken Geschichte von verwöhnten Göttersöhnen, Machtmissbrauch und der Kraft der Liebe eigentlich jede Menge Stoff für gezielte Aktualisierungen liefern würde. Die beiden Boreaden werben um die Königin Alphise, werden zurückgewiesen, rächen sich mit Hilfe ihres windgewaltigen Vaters Boreas. Sie werden jedoch von Abaris und einem magischen Pfeil Amors bezwungen, und schliesslich stellt in gutbarocker Manier Apollo als Deus ex Machina die Ordnung wieder her.
Dreh- und Angelpunkt von Pellys Inszenierung ist eine fulminante «Sturm»-Szene. Pelly und seine Bühnenbildnerin Chantal Thomas haben dafür die mehrfach geteilte Drehbühne mit gigantischen runden Schalen, die von ferne an den Plastiker Richard Serra erinnern, ausstaffiert und lassen mit Hilfe einiger williger Bühnen-Geister diese Elemente einen virtuosen, verschlungenen Tanz aufführen, der alle räumlichen Grenzen aufhebt. Zugleich dienen diese Schalen als Projektionsflächen für die Videos von Charles Carcopino, die dezent atmosphärische Elemente zeigen. Ästhetisierung pur also auf der Bühne und bei den Kostümen, für die ebenfalls der kreative Franzose sorgte, und eine moderne Version des Bühnenmaschinen-Theaters, das die Barockzeit so liebte.
Dieser Devise folgt auch die Personenregie. Zwar sorgte Pelly durchaus für viel Aktion - nicht zuletzt oft und gerne mit dem beachtlichen Junior Ballett des Opernhauses - aber die Szenen zielten nicht auf realistische Handlungen, sondern eher auf typisierte, ins Allgemeine erhobene Situationen.
Die Musik im Zentrum
Im Grunde aber stand die Musik im Zentrum dieser Produktion. Musik heisst in diesem Fall nicht wie in der Barockoper italienischer Prägung sängerische Bravour mit instrumentaler Stütze, sondern orchestrale Klangfarben und harmonische Raffinesse. Da gab es lange Passagen, in welchen die Bühne völlig zurücktrat, um atemlos zwei akrobatischen Fagotten zuzuhören, oder erstarrte vor der Virtuosität der Traversflöten und den fast ständig geforderten Streichern oder andächtig den Atem anhielt über die überirdisch schönen Klangfarben gedämpfter Bratschen-Bläser-Kombinationen. Es war fast so, als könne selbst die Inszenierung nicht glauben, was hier an musikalischem Reichtum zum Vorschein kam.
Und das allein ist nichts, wenn man nicht den Magier Minkowski hat, der aus der Partitur zusammen mit einem sehr engagierten Orchester - die Barock-Formation «La Scintilla» des Opernorchesters bewies einmal mehr ihre Klasse - diese Klänge und Harmonien zum Leben erwecken kann. Ein Magier, der ein Piano hervorbringt, das diesen Namen wirklich verdient, der Spannungsbögen bezwingend natürlich gestaltet und auf kleinem Raum differenziert, quasi wie aus dem Moment heraus musiziert. Ein Magier, der Rameaus klangsinnliche Orchesterfarben in aller Pracht zum Blühen bringt, und der die schmerzliche Schönheit dieser harmonisch raffinierten Vorhaltsketten geniesserisch bis zur Neige auskosten kann.
Verehrer und Verächter
Dabei war längst nicht alles perfekt an dieser Premiere, im Gegenteil, trotz der offensichtlich engagierten Vorbereitung liefen kleinere Pannen von den Jagdhörnern der Ouvertüre (zugegeben, das grenzt ans spieltechnisch Unmögliche) bis zu Abaris' Schluss-Arie wie ein roter Faden durch den Abend und zeugten von den enormen Schwierigkeiten dieser Partitur. Ausgenommen davon waren einige Sänger wie Annick Massis, die als Königin Alphise zum leuchtenden Stimmenstern des Abends wurde. Herauszuheben wären weiter der Tenor Tom Allen als Calisis, einer der Boreaden, Richard Croft als strahlender Held Abaris, aber auch François Lis in der Rolle des Boreas.
Man möge es mir bitte verzeihen, dass diese Kritik ganz ohne kritischen Gedanken auskommt. Es soll Leute geben, die mit Rameaus Musik nichts anfangen können, und die nach einer gähnend verbrachten ersten Hälfte das Haus verlassen haben. Wie die Opern von Wagner soll auch diese Musik polarisieren in glühende Verehrer und wütende Verächter. Zu welcher Gruppe Sie, liebe Leser, gehören, können Sie nun mit minimalem Aufwand herausfinden: Wenn Ihnen diese Produktion nicht gefällt, dann wird Ihnen keine gefallen. Besser werden Sie Rameau nirgends hören. Höchstens gleich gut, und das immer dann, wenn der Name Minkowski draufsteht.
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14. 6. 2004
Im Sog oder Amor gegen Ventilator
Musikalisch spritzig, aber optisch etwas gar kühl: Marc Minkowski und Laurent Pelly zeigen Rameaus «Les Boréades» im Zürcher Opernhaus.
Von Susanne Kübler
Es gab viele Gründe für Vorfreude vor dieser Premiere. Jean-Philippe Rameaus «Platée» etwa, die der französische Regisseur Laurent Pelly mit viel Witz, Musikalität und poetisch-skurriler Fantasie auf die Bühnen von Paris und Genf gebracht hatte. Oder die Tatsache, dass Pelly und der Dirigent Marc Minkowski nicht nur bei dieser «Platée» als inspiriertes Team aufgefallen waren. Und schliesslich das Stück selbst: Wie witzig, musikalisch und fantasievoll Rameaus tragédie lyrique «Les Boréades» gespielt werden kann, hatten vor fünf Jahren Ursel und Karl-Ernst Herrmann zusammen mit Simon Rattle in einer umwerfenden Salzburger Produktion vorgeführt.
Ein Gott wie aus dem Musical
Eine Selbstverständlichkeit war diese Salzburger Sternstunde nicht. Denn eigentlich ist die Geschichte der Königin Alphise, die einen der Söhne des Windgottes Boreas heiraten soll und statt dessen ganz unstandesgemäss Abaris liebt, nicht besonders aufregend. Die vielen Tanzsätze können einen Regisseur zur Verzweiflung bringen (und haben schon manchen an Rameau scheitern lassen). Und der subversive Geist der Handlung, der (vielleicht) dafür verantwortlich war, dass dieses letzte Rameau-Werk nach dem Tod des Komponisten 1764 und für gut zwei Jahrhunderte in den Schubladen verschwand, lässt sich heute kaum noch aufspüren.
Wer das Stück neu beleben will, braucht deshalb überdurchschnittlich gute und viele Ideen. Pelly - erst der vierte Regisseur, der sich «Les Boréades» vorgenommen hat - hatte erstaunlich wenige für diese Koproduktion von Lyon und Zürich. Vor allem sind sie schlecht verteilt: Die zentrale Trouvaille kommt eine halbe Stunde vor Schluss, wenn Boreas Alphise in einen riesigen Ventilator sperrt. Erlöst wird sie von einem futuristisch grün glänzenden Apollo, der als eine Art Deus ex Musical die boreadische Herkunft des Abaris und damit die Legitimität ihrer Liebe verkündet. Zu spät, um den Stilbruch noch als Prinzip etablieren zu können.
Trockenschwimmende Tänzer
Davor hat man Alphise gut zwei Stunden händeringend die Avancen von Boreas Söhnen abwehren sehen; man hat den hin- und herschreitenden Protagonisten nachgeschaut und das Scheitern eines poetischen Versuches miterlebt, bei dem sich Ballone im Tanz verhedderten. Kühl und ernst wirkte das alles: die verschiebbaren, halb rund designten Wände (Chantal Thomas) ebenso wie die dezent schimmernden, farblich geschmackvoll assortierten Reifröcke und Mäntel (Pelly). Von der Dekadenz dieser göttlichen Spassgesellschaft, die Alphise so sehr auf die Nerven geht, war, abgesehen von der etwas extravaganten Schminke ihrer Verehrer, nicht viel zu sehen.
Zwar hat dieses Bühnengeschehen durchaus musikalische Qualitäten (und das ist mehr, als man von vielen Inszenierungen sagen kann); aber für Witz und Fantasie sind diesmal vor allem Marc Minkowski und der Choreograf Lionel Hoche zuständig. Sie schöpfen dafür aus dem Vollen: Schon in der Ouvertüre wird klar, welchen Sog ein temperamentvoller Dirigent aus den kurzen und sehr kurzen Stücken dieses Werks entwickeln kann. Und wenn die Tänzerinnen und Tänzer vom Junior Ballett des Zürcher Opernhauses die Beine per Handarbeit umstellen, wenn sie trockenschwimmend oder kopfknickend über die Bühne torkeln, berührungsfrei übereinander herfallen oder wie mit gekappten Fäden in sich zusammensinken, dann tun sie das in perfekter Entsprechung zu den musikalischen Stimmungen.
Auch wenn diese Tänze nicht so recht mit der Handlung verschmelzen: Durch die Symbiose mit der Musik gehen sie weit übers Dekorative hinaus. Umgekehrt ist die Musik nicht nur Begleitung, sondern das eigentliche Energiezentrum der Aufführung. Tänzerisch, ausgelassen, mit teils irrwitzigen Tempi und körperhaftem Klang spielt das Ensemble La Scintilla, und einmal mehr zeigt sich die erstaunliche technische und stilistische Kompetenz der operneigenen Barockformation, die ja nur «nebenher» historische Instrumente bedient. Wie die Fagottisten ihren wohl exponiertesten Einsatz in der Opernliteratur bewältigen, wie in der Sturmszene der Wind durch die Flöten pfeift und die Streicher durch die Partitur fegen: Das ist gestisch so präzis, dass Minkowksi auf die perfekte Synchronie zwischen den Instrumenten zuweilen verzichten kann. Auch darin trifft sich die Musik mit dem Tanz, und das Resultat ist überwältigend lebendig.
Die Sängerinnen und Sänger profitieren von diesem Schwung (und durchaus auch davon, dass die Regie sie weit gehend in Ruhe lässt): Annick Massis, die als Alphise ein hinreissendes Zürcher Debüt hat, liebt und leidet mit leichtem, quecksilbrigem Sopran.
Dass Abaris ihr Auserwählter ist, erstaunt nicht; Richard Crofts warmer, höhensicherer Tenor passt exakt zu ihr und zu Rameaus Musik. Von den beiden erfolglosen Verehrern hätte sich wohl Tom Allen die besseren Chancen ausrechnen können: Hell, kräftig und ziemlich schmierig singt der Tenor - und damit überzeugender als sein ebenfalls beweglicher, aber spröderer baritonaler Konkurrent Gabriel Bermúdez.
Melancholischer Triumph
Kurze, aber starke Auftritte haben zudem Martina Janková als Amor und François Lis als Boreas: In der Geschichte siegt der Gott der Liebe über jenen der Winde, vokal sind sich die beiden ebenbürtig. Glockenhell singt sie, mit imposant bösem Bass er, und dass die Liebenden ziemlich erschüttert aus diesem göttlichen Duell hervorgehen, lässt sich nachvollziehen. Nie ist eine nach vielen Schwierigkeiten möglich gewordene Liebe schwermütiger besungen worden als in diesem Stück; wo der Text von Überschwang und Glück und Triumph redet, versinken die Töne in tiefer Melancholie.
Da zumindest ist Rameaus Subversivität noch spürbar: Die Wiederherstellung der sozialen Ordnung wird keineswegs euphorisch begrüsst, der Komponist verweigert sich dem Jubel des mutmasslichen Librettisten Louis de Cahusac. Und der rauschhafte Tanz nach diesem Duett wirkt nun tatsächlich richtig dekadent.
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14. 6. 2004
Aufwändig inszenierte Liebesallegorie
Premiere von Jean-Philippe Rameaus «Les Boréades» im Opernhaus Zürich
Am Samstagabend inszenierte, erstmalig in diesem Haus, der französische Regisseur Laurent Pelly im Opernhaus Jean-Philippe Rameaus letzte Oper «Les Boréades». Musikalisch intensive Momente wechselten sich in der mit Chor und Ballett üppig ausgestatteten Barockoper ab mit sanftem Dahinplätschern - eine nicht auf der ganzen Linie überzeugende Produktion. Der französische Barock hatte es neben dem italienischen immer schon schwer. Jean-Philippe Rameau, der in erster Linie als epochemachender Musiktheoretiker in die Musikgeschichte einging, hat sich im so genannten «Buffonistenstreit» zwar für Neuerungen in der französischen Oper eingesetzt, wehrte sich aber gegen den Einfluss des italienischen Stils. «Les Boréades», seine letzte Oper, ist wie ein Resumee seiner französisch nationalen und harmonischen Errungenschaften. Die aufwändige Zürcher Inszenierung mit Mark Minkowski am Dirigentenpult und Regisseur Laurent Pelly hat, um es vorwegzunehmen, einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen.
Antik-mythologischer Stoff
Zu Rameaus Lebzeiten wurde dieses dreieinhalbstündige, mit Chor und Ballett üppig ausgestattete Werk nicht uraufgeführt. Die Wiederentdeckung des Komponisten Rameau geht einerseits auf die «Édition Stil» zurück, die sich um Neueditionen französischer Barockmusik sehr verdient gemacht hat. Für die erste Aufführung des Werks sorgte aber erst in den 1970er Jahren John Eliot Gardiner in London.
Die Geschichte ist simpel und abstrakt, eine Allegorie der Liebe. Alphise sollte sich nach alter Sitte mit einem Herrscher aus dem Geschlecht der Boréaden vermählen. Sie aber hat sich in Abaris verliebt, dessen Herkunft niemand kennt, und ist bereit, für diese Liebe auf den Thron zu verzichten. Das nimmt ihr der böse Nordwind-Gott übel: Er verwüstet das Land und entführt Alphise, um sie zu martern und zur Heirat mit einem Boréaden zu zwingen. Abaris findet seine Geliebte jedoch und bezwingt die bösen Mächte. Da kommt Apollon, der Gott des Lichtes, und verkündet, dass Abaris sein Sohn sei, den er mit einer Nymphe aus dem Geschlecht der Boréaden gezeugt habe. Die Herkunft ist also in Ordnung, der Liebesheirat steht nichts mehr im Wege.
In nüchternem Rahmen
Der französische Königshof liebte die pompöse Ausstattung der Oper, das Ballett und szenische Effekte. Laurent Pelly entzieht sich in Zürich dieser Tradition, indem er die Figuren in ein nüchternes, grau-blaues Bühnenbild mit verschieb- und drehbaren Wänden stellt. Darauf sorgt ein subtil eingesetztes Video-Lichtspiel (Charles Carcopino) für naturalistische Wasser- und Wind-Effekte. Die Bühne wirkt dadurch aber auch sehr kahl, und die sich eröffnenden Gänge werden kaum bespielt. Der Raum ist für das geschickt ins Geschehen integrierte Ballett da (Choreographie Lionel Hoche), welches in lichten, aber doch auch die Bewegung behindernden höfischen Ringröcken und Schleppmänteln modern und ausdrucksstark tanzt.
Ungewohnt tiefe Stimmung
Für die Sängerinnen und Sänger bietet Rameau, der die Harmonie deutlich über die Melodie stellte, wenig ariose Entfaltungsmöglichkeit. Sie singen in einem parlandohaften Stil und sind in den Orchestersatz eingewoben. Das auf historischen Instrumenten spielende und hochgefahrene Orchestra «La Scintilla» der Oper Zürich bekundete jedoch einige Mühe, sich mit der zu Rameaus Zeit üblichen, heute auch für die authentische Musizierpraxis ungewohnt tiefen Stimmung von 392 Herz zurechtzufinden. Das ist ein ganzer Ton tiefer als die moderne Stimmung, und noch tiefer als die historischen Instrumente sonst schon gestimmt werden. Dies hatte einen gewöhnungsbedürftigen, recht dumpfen Klang zur Folge, und der Basso continuo wirkte noch sonorer und dominanter als sonst.
Aber nicht nur die eigenartige Stimmung wirkte anfangs verunsichernd. Die Ouvertüre mit den beiden falsch intonierten Naturhörnern fiel auch rhythmisch fast auseinander. Doch Mark Minkowski liess sich nicht beirren, zelebrierte mit seiner beredten Schlagtechnik eine wunderbare tänzerische Schwebe und zwang die heftigen Stürme in rasende Tempi. Mit viel Sinn für instrumentale Effekte liess er die Fagotte brummen und schnattern, um andererseits die Stimmen mit anschmiegsam weichem Ton zu umgarnen, vor allem die der Liebenden.
Mit lyrischer Intensität
Annick Massis stellte sich der Titelpartie mit brillanter stimmlicher Agilität. Ihre erste grosse Arie, in der sie die Tragik ihrer «verkehrten» Liebe mit Blitz und Donner ausficht, meisterte sie mit bravouröser Dramatik. Wirkte sie danach stimmlich insgesamt auch etwas blass, so fand sie in den zarten Liebesduetten mit Richard Croft doch immer wieder zu bewegender lyrischer Intensität. Croft dagegen sang mit Herzblut, schlicht und doch risikofreudig im Ausdruck und im Ringen um die Liebe. Stark zu prägen vermochte auch Helena Mosuc mit ihrer hellen vitalen Sopranstimme, obwohl sie nur die kleinen Rollen als Sémire und Nymphe sang. Gar gleichförmig buhlte hingegen Tom Allen als einer der Boréaden-Liebhaber um die Gunst der Alphise, während sein Konkurrent Gabriel Bermúdez stimmlich eher eng und etwas gehemmt wirkte. Gab Jean-Sébastien Bou einen angenehmen Hohepriester Adamas, so hatte der «schwarze» Bass François Lis als furioser Borée-Gott einen stimmlich wie szenisch beeindruckenden Auftritt.
Insgesamt bewegte sich dieser lange Abend zwischen musikalisch intensiven Momenten (vor allem mit der erstaunlichen Leuchtkraft des Chores) und sängerischem Dahinplätschern, unterhaltsamen Effekten und Langeweile. Ob sich für dieses Werk Aufwand und Ertrag die Waagschale halten, bleibt fraglich.
Sibylle Ehrismann
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