Presse-Spiegel
Opernhaus Zürich
SYNOPSIS
LIBRETTO
HIGHLIGHTS
Giacomo Puccini: La Bohème
3. Juli 2005 (Première)
   Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühnenbild
Kostüme
Lichtgestaltung
Chor

Mimì
Musetta
Rodolfo
Marcello
Schaunard
Colline
Benoît
Alcindoro
Parpignol
Franz Welser-Möst
Philippe Sireuil
Vincent Lemaire
Jorge Jara
Hans-Rudolf Kunz
Ernst Raffelsberger

Cristina Gallardo-Domâs
Elena Mosuc
Marcello Giordani
Michael Volle
Cheyne Davidson
László Polgár
Rudolf Haunstein
Giuseppe Scorsin
Oscar Tellez Roa
Verzeichnis

Rezensionen
    Persönlicher Eindruck
einer Premièren-Besucherin
Ein Hauch von Kino
Eine Frau zum Verlieben
Lebenswärme und kalte Hände
Die Klage des Poeten rührt zu Tränen
Im Strom der Gefühle
Gut verträgliche Leichtigkeit
Auf Sonnenblumen gebettet
Und am Ende ein Tod mit Sonnenblumen
Heisse Gefühle, die aber frieren lassen
Der Künstler als Fokus der Kunst

Zwischen Gefühl und Moderne
   

Vox spectatricis

4. 7. 2005 / Chantal Steiner

Entkitschte Idylle

Puccinis "La Bohème" schloss die diesjährigen Premieren ab. Nach dem plötzlichen Tod von Marcello Viotti übernahm Franz Welser-Möst die Produktion. Die Festspielpremiere wurde in memoriam Marcello Viotti abgehalten. Als etwas pietätlos – wenn auch vermutlich nicht so beabsichtigt – empfand ein Grossteil des Publikums Intendant Pereiras Verknüpfung des Nachrufs auf Marcello Viotti mit der Bekanntgabe der Vertragsunterzeichnung Welser-Mösts als GMD.

Die zwölfte Premiere dieser Saison entpuppte sich als durchaus festspielwürdig. Es war bestimmt kein einfaches Unterfangen, die beliebte naturalistische, jedoch arg in die Jahre gekommene Inszenierung von Claus Helmut Drese abzulösen. Man hatte in der näheren Vergangenheit gesehen, wie schwierig es ist, beliebte, gängige Opern neu in Szene zu setzen (ich denke da an "Carmen", "Barbier" oder auch "Così", um nur einige zu nennen).

Der erstmals am Opernhaus engagierte Philippe Sireuil hat diese Herausforderung angenommen und meines Erachtens sehr gut bewältigt. Seine "Bohème" ist sicher kein Geniestreich, dazu fehlt es an neuen Erkenntnissen. Aber er schafft es, in einer kargen, modernen Bühnenwelt das Stück zeitversetzt zu erzählen, ohne dass man die "Bohème" nicht wieder erkannt hätte. Es ist eine konventionelle Inszenierung, die mit viel Liebe zum Detail und einer sehr guten Personenregie ausgestattet worden ist. Leider finden sehr viele Szenen ganz am linken oder am rechten Bühnenrand statt, so dass einige der Zuschauer (so auch ich) vieles nicht mitbekamen. Offensichtlich auch einige Mätzchen, die das Stück nicht nötig hätte, wie Colline, der mit heruntergezogenen Hosen vom "stillen Örtchen" kommt. Als extrem dilettantisch empfand ich hingegen, dass das Schlussbild (Rodolfos Kammer öffnet sich auf ein Feld von Sonnenblumen, vermutlich eine Reminiszenz an das Bekenntnis des Liebespaares "ci lasceremo alla stagion' dei fior..") bei den Zuschauern im 2. Rang nicht den gewünschten Effekt erzielen konnte, da die Sonnenblumen schon während des ganzen 4. Bildes zu sehen waren. Ein schwarzer Vorhang hätte gereicht, um dies zu verhindern. Sind Zuschauer im 2. Rang minderwertige Zuschauer? Oder sind Regisseure/Bühnenbildner (denn nicht nur Sireuil unterlaufen solche handwerklichen Schlampereien) zu faul, in den 2. Rang hinaufzusteigen und die Wirkung ihrer Bildkompositionen zu kontrollieren?

Gelungen hingegen die Umsetzung der Mansarde. Extrem eng geraten, mit wenig Platz und sehr wenig Requisiten. Dies war auch vom Sängerischen her ideal, ermöglichte es doch den Sängern, von einem günstigen Standort aus über das mächtige Orchester zu singen, ohne ins Rampensingen zu verfallen. Ebenfalls sehr angenehm war der praktisch nahtlose Übergang zum 2. Bild, auch wenn es sich hierbei um die Karnevalszeit und nicht um Heiligabend handelt. Es ist etwas gar viel "Action" auf der Bühne zu sehen, aber das ist schon alleine durch die Vielzahl an Choristen und Statisten bedingt.

Dass das 3. Bild nicht jenseits der Zollschranke beim Quartier Latin vor einem Cabaret spielt, sondern in einer Bahnhofshalle (offensichtlich mit Freudenhaus, aber das konnte ich von meinem Platz auch nicht sehen), störte nicht weiter. Reisende gibt es an einem Bahnhof zuhauf, denen Musetta das Singen beibringen könnte, und auch am Bahnhof kann es Zöllner geben.

Alles in allem eine - zumindest von dem zu urteilen, was ich sehen konnte - gelungene Umsetzung, die von der hervorragend agierenden, spielfreudigen Sängergilde getragen wurde. Die Komik kam ebenso zum Zug wie die Tragik, und musikalisch konnte kaum etwas ausgesetzt werden.

Cristina Gallardo-Domâs trat zum ersten Mal in Zürich auf. Ihre Mimi war absolut bestechend. Naiv, märchenhaft, romantisch, verzweifelt… alles konnte sie in die Stimme und in die Interpretation legen. Ihr Sterben war überwältigend - berückende Piani, welche fast im Unhörbaren erstarben, genial untermalt vom Orchester, das sich bis zum Äussersten zurücknehmen konnte. Marcello Giordiani litt an diesem Abend entweder an Lampenfieber (doppelte Belastung durch Premiere und TV-Aufzeichnung?) oder war etwas indisponiert. Sein Timbre ist ja Geschmackssache (meist mit einem Schleier belegt), aber gestern hatte er bisweilen etliche Mühe in der Höhe (eng) und die Stimme rutschte nach hinten. Differenzierung war nicht unbedingt seine Sache, auch wenn er zwischendurch sehr schöne Pianostellen hatte. Aber trotz allem: In keinem Augenblick beschlichen einen Bedenken, dass er die Partie nicht meistern würde.

Die Musetta wurde frivol, spritzig und leicht von Elena Mosuc verkörpert, die mit ihrem glockenhellen Sopran die Herzen für sich einzunehmen wusste. Auch ihre Wandlung im letzten Bild vermochte sie anrührend zu gestalten. Schade, dass sie bei ihrem ersten Auftritt etwas unvorteilhaft gekleidet war (wo hatte da der Kostümbildner Jorge Jara seine Augen?). Ihr debiler Lover Alcindoro (Giuseppe Scorsin) als Moshammer-Verschnitt wurde für mein Empfinden etwas gar trottelig dargestellt, während der Benoît von Rolf Haunstein in seiner Unbedarftheit etwas Anrührendes hatte. Hervorragend der Marcello von Michael Volle. Sein warmer, kraftvoller Bariton verströmte Wohlklang, vermochte zu betören und besass die nötige Durchschlagskraft, um jederzeit voll zu überzeugen. Dass dieser Künstler auch ein hervorragender Schauspieler ist, rundet seine Leistung bei jedem seiner Auftritte ab. Auch der Schaunard von Cheyne Davidson und der Colline von Lászlo Pólgar erfüllten die hoch gesteckten Erwartungen, ganz so wie der Chor und der Kinderchor.

Das Orchester der Oper Zürich hatte wieder einen Glanztag erwischt. Franz Welser-Möst dirigierte Puccini entschlackt, mit einer ausgeprägten Dynamik (feinste Piani lösten Fortissimi, welche bisweilen die Akustik des Opernhauses an ihre Grenzen brachten, ab), die Spannungsbögen waren brillant ausgearbeitet, es entstand nie Langeweile. Trotz der transparenten Lesart waren Sinnlichkeit und "Schwülstigkeit" gegeben, ohne dass diese aber pastos wirkten. Dadurch ergaben sich neue Erkenntnisse in einem Werk, das man doch zu kennen glaubte.

Fazit: eine Festspiel-Premiere, die Spass gemacht hat!

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Basler Zeitung

5. 7. 2007 / Sigfried Schibli

Ein Hauch von Kino
Giacomo Puccinis Oper «La Bohème» im Opernhaus Zürich

Er wolle sich am Realismus von Aki Kaurismäkis Film «La vie de Bohème» orientieren, liess Regisseur Philippe Sireuil verlauten. Das ist ihm weitgehend gelungen.

Das karge Intérieur mit Bett, Tisch und Ofen und darüber die Dächer von Paris - der Anfang von Puccinis Oper «La Bohème» sieht in fast allen Inszenierungen gleich aus. Die Künstlertypen haben sich im Elend wohlig eingerichtet. Einer von ihnen wird immer mal wieder etwas zu Essen und eine Flasche Bordeaux nach Hause bringen, und wenn der Ofen mangels Brennholz kalt ist, tut es auch ein brennbares Manuskript.

Rodolfo, Marcello, Colline und Schaunard sind in der Zürcher Inszenierung von Philippe Sireuil (Bühne: Vincent Lemaire) noch filmreifer als gewohnt. Sie feiern die Weihnachtstage mit lustigen Hütchen auf dem Kopf, was dem Ganzen einen komischen Anstrich gibt und den Kontrast zum Elend - auch zu dem der todkranken Nachbarin Mimi - verstärkt.

die details.
Es ist weniger die traditionelle Sicht aufs Ganze, die diese Inszenierung auszeichnet, als der genaue Blick für die Details. Wenn Mimi auf der Suche nach Kerzenlicht - und im übertragenen Sinn nach Liebe - die Dachkammer der Vier betritt und in einem unbewussten Akt von Zielstrebigkeit den Zimmerschlüssel verliert, macht sich Rodolfo gar nicht lang auf die Suche nach dem verlorenen Objekt und greift rasch nach dem «eiskalten Händchen». Mimi dreht den Wandspiegel in der fremden Wohnung um, um nicht ihr krankes Gesicht sehen zu müssen. Im Schlussakt wird Rodolfo den verkehrt hängenden Spiegel bemerken und einen Augenblick zögern, was er tun soll.

Das sind, ebenso wie die im dritten Bild auftauchenden Passanten, schöne Details, die für die Personenführung Philippe Sireuils sprechen. Diskutabel ist der Schluss: Die vier Freunde finden sich in der Dachwohnung wieder, aber es fehlt die Pariser Dächer-Silhouette, dafür erhebt sich jetzt der nachtblaue Himmel über einem Sonnenblumenfeld, das nach Mimis Tod plötzlich sichtbar wird. Da kippt Naturalismus ins Surreale.

eine welt.
Vor allem das zweite Bild vor dem Pariser Café Momus gerät Sireuil und dem Zürcher Ensemble meisterlich. Puccini hat darin grosse Oper, Kindergeschrei, eine Banda, Chor und Orchester zu einem kühnen Gesellschaftsbild verdichtet. Auf der Zürcher Opernbühne vor dem zum Stehimbiss umgedeuteten Restaurant Momus wird nun - nicht zuletzt von den Chören - glänzend gesungen und gespielt. Die Ausgelassenheit der Meute kontrastiert mit dem seelischen Elend, das sich anbahnt, als Rodolfo ahnt, dass Mimi todkrank ist.

Marcello Giordani gibt den Dichter-Liebhaber mit strahlendem, sauber geführtem, mitunter allzu lautem Tenor. Cristina Gallardo-Domâs ist eine ungemein differenzierte Mimi, die ihre Stimme vom subtilen Piano zum durchschlagenden Forte modelliert. Eine attraktive Musetta mit glockenhellem Sopran-Timbre gibt Elena Mosuc. Cheyne Davidson (Schaunard), Michael Volle (Marcello) und László Polgár (Colline) sind die Bohémiens, die darstellerisch wie stimmlich kaum Wünsche offen lassen. Eigentlich hätte Marcello Viotti diese Produktion einstudieren und leiten sollen. Sein Tod im Februar zog einen brutalen Strich durch diese Rechnung.

Die Aufgabe wurde von Franz Welser-Möst übernommen, der das Stück sinnlicher und sentimentaler nahm als so mancher Italiener. Einmal mehr erwies sich der frisch gebackene «Generalmusikdirektor» der Zürcher Oper als Routinier, der auch mal in eine ihm vielleicht eher wesensfremde Rolle schlüpfen kann.

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Blick

5. 7. 2005 / Roger Cahn

Eine Frau zum Verlieben
Ein intelligentes Stück, stimmungsstarke und feinfühlige Musik. Puccinis Drama «Bohème» um Liebe und Tod zählt zum Besten, was Oper zu bieten hat. Die neue Zürcher Produktion erfüllt höchste Ansprüche. Premiere war am Sonntag.

Die Festspielpremiere galt dem Andenken des im März verstorbenen Schweizer Dirigenten Marcello Viotti. Er hätte die Produktion leiten sollen. Nach einer Schweigeminute übernahm der «alt-neue» Musikchef des Hauses, Franz Welser-Möst (44), das Zepter.

Und wie! Nicht mit italienischer Verve und Kraftmeierei, sondern mit viel Einfühlung in die Psychologie der Figuren. Welser-Möst opfert äusserliche Effekte und ersetzt diese durch Liebe zu den Details. Seine «Bohème» wird zum Psycho-Drama, das unter die Haut geht. In der armseligen Pariser Künstlerszene des ausgehenden 19. Jahrhunderts verlieben sich die Näherin Mimi und der Poet Rodolfo «sterblich» ineinander. Mimi erliegt am Ende in den Armen des Geliebten ihrer Lungenkrankheit - ein Bühnentod, der seinesgleichen sucht. Regisseur Philippe Sireuil verzichtet auf Aktualisierung, inszeniert zeitlos, freut sich am Alltäglichen der fantasievollen Lebenskünstler und zelebriert die Armut im positiven Sinn. Bühnenbild (Vincent Lemaire) und Kostüme (Jorge Jara) treffen mit einfachen Versatzstücken und billigen Klamotten haargenau die Atmosphäre der «Bohème». Puccini steht und fällt mit den Sängerinnen und Sängern. Auch da bietet diese Produktion Spitzenklasse. Die Chilenin Cristina Gallardo-Domâs lebt mit jeder Ader die Tragik der Mimi und lässt die Feinheiten der Musik in ihrer Kehle wie Butter zergehen - eine Frau zum Verlieben. Der Sizilianer Marcello Giordani geniesst vor allem die Dramatik seiner Rolle. Sein kraftvoller Tenor strahlt weit über die engen Dimensionen des Zürcher Opernhauses hinaus. Fazit: Höhenflug am Ende einer durchzogenen Saison.

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Der Landbote

5. 7. 2005 / Herbert Büttiker

Lebenswärme und kalte Hände
Weihnachten im Sommer: Die Festspielpremiere des Opernhauses war ein Geschenk an das Publikum, zu Festspielpreisen im Haus, umsonst auf dem Münsterhofplatz, wo es «La Bohème» auf Leinwand gab.

Trauer und Freude treffen aufeinander. Das Opernhaus widmete die Premiere von «La Bohème» dem verstorbenen Dirigenten Marcello Viotti, der sie hätte dirigieren sollen. Nach der Aufforderung zum Gedenken fügte Alexander Pereira die Neuigkeit an, die Franz Welser-Möst betraf. Er hat die Einstudierung und Leitung der Aufführung nun übernommen. Ab September ist er Generalmusikdirektor des Hauses (siehe Montagsausgabe). «Vita gaia e terribile» – das Zitat aus Henri Murgers Roman «Scènes de la Vie de Bohème» steht auch über Puccinis fein und grandios gearbeiteter Partitur. Sie empfahl sich an diesem Abend zur Habilitation des neuen GMD: eine wunderbare Vorlage für Welser-Mösts hinhorchendes und zugriffiges Musizieren, seine spezifische Sensibilität. Im vierten Bild zum Beispiel: brillant zugespitzt die kurze Tanzmontage, prall das burleske Crescendo der komischen Duellszene und dann mit dem Auftritt Mimìs der weite Zug einer «unendlichen Melodie», die in ihrer Kulmination im Forte wie im sachten Verebben mit aller Behutsamkeit gestaltet wurde – Puccini in der Nähe Mahlers sozusagen.

Sensibiliät in der Männerrunde
Aber die Sänger sind bei Puccini handelnde Personen und nicht symphonisch mitlaufende Stimmen. Die Tendenz, sie allzu sehr ins Weiträumig-Orchestrale einzuspannen (Duett beziehungsweise Arien im ersten Bild), sie gleichsam ein wenig auf Wagner zu trimmen, ist da und dort spürbar. Die beiden Protagonisten haben freilich den grossen Atem, um souverän mitzuziehen. Bei Marcello Giordanis Rodolfo mag der jugendlich-warme Ton dafür ein wenig zu kurz kommen, Cristina Gallardo-Domâs' Mimì aber ist davon erfüllt, voller Intensität, voller Timbre auch im Sanften und glaubhaft mit jeder Faser. Im Quartett der Bohémiens zeichnet sich Rodolfo mit belcantistischer Verve zwar besonders aus, aber er fügt sich auch robust in die rauere, wenn auch nicht unsensible Männerrunde: zu Marcello, dem Michael Volle baritonale Fülle verleiht, zu Colline, den László Polgárs Bass zum starken und skurrilen Charakterkopf formt, und Schaunard, der durch Cheyne Davidson angemessene Präsenz erhält – der Rolle entsprechend, die das Stück dem Musiker zuweist: von den anderen zwar als einkommensstärkster Kumpan begrüsst, sonst aber beiläufig behandelt zu werden.

Die Lebensnähe der unterschiedlichen Typen und Temperamente arbeitet der Regisseur Philippe Sereuil mit einigem Witz, aber ohne aufgesetzte Gags heraus. Dies im Bühnenbild von Vincent Lemaire, das die Enge und Kargheit der Mansardenexistenz zeigt, aber nach schneller Verwandlung auch Platz für das grosse Strassenbild bietet. Auch das dritte Bild – hier eine Bahnstation – ist mit dem in der Höhe verstellbaren Glasdach schon angelegt: Atmosphärischer Realismus, wie ihn die in den kalten Wintermonaten spielende Oper verlangt, kommt in diesen Bildern zum Tragen und folgt doch keinem sklavischen Eins zu Eins. Das dünne Ofenrohr, das sich krumm in die Höhe rankt (wie in van Goghs Hospital), ist so auch ein Kommentar zu den «kalten Händen», die das Leitmotiv der Oper sind. Und erst recht ein solcher ist das Sonnenblumenfeld, das mit Mimìs Tod im Hintergrund der Bühne plötzlich in Blüte steht.

Kunst und Karneval
Die Sonnenblumen setzen einen Kontrapunkt zur winterlichen Tristesse, den Puccinis Musik freilich nicht vorgesehen hat. Dafür übergeht die Inszenierung den im Werk angelegten: Das weihnachtliche Strassenbild in seiner satten Bürgerlichkeit, mit Konsumrausch und frohen Laune, ist hier in bizarrer Kostümierung (Jorge Jara) in ein karnevaleskes Tohuwabohu (grossartig halten sich dabei die Chöre und insbesondere auch der Kinderchor des Opernhauses) verwandelt, in dem alles ununterscheidbar ist: Bohème und Bürgertum, die Sehnsucht nach Wärme und die Satire auf den reichen Bourgeois, der von Musette an der Nase herumgeführt wird. Gerade an ihr zeigt sich (abgesehen auch von den Kindern), wie schief die Assoziationen zu Künstler- und Studentenball ist: Elena Mosuçs mag gut bei Stimme sein, ihre Walzer-Koketterie greift nicht, und was sie spielt, hat mehr mit Harlekinade als provozierender Erotik zu tun. Für die Bohémiens gilt übrigens Ähnliches in abgeschwächter Form: Ernsthafte künstlerische Absichten scheint ihnen die Inszenierung nicht annähernd unterstellen zu wollen, mit Fasnachtshüten dagegen ist sie freigiebig.

Mit dem dritten Winterbild an der «Barrière d'Enfer» ist das Manko vergessen: «La Bohème» wird wieder zum Stück, das es ist. Gross und schön, wie es die Musik am Unmusikalischen wachsen lässt, am Husten eines Menschen, der den Winter nicht überlebt, und wie es mit dem lapidaren Schicksal auf das Wesentliche eingeht: die kalten Hände und die Sehnsucht nach Wärme.

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Neue Luzerner Zeitung

5. 7. 2005 / Urs Mattenberger

Die Klage des Poeten rührt zu Tränen
Gefühlskino auf der Opernbühne: Die Zürcher Neuinszenierung von Puccinis populärster Oper überflügelt Hollywood nur dank hervorragender Sänger.

Licht und Sonne, so weit das Auge reicht: Beim Schlussbild von «La Bohème» im Opernhaus Zürich dürfte an der Premiere vom Sonntag kein Auge trocken geblieben sein. Eben noch hat die kranke Mimì mit dem Tod gerungen. Ihr Geliebter Rodolfo bricht über der Toten zusammen, auch aus Verzweiflung, weil die Armut, in der er als erfolgloser Poet lebt, ihren Tod beschleunigt hat. Da, im allerletzten Moment und schon zu spät, schieben sich die Wände der schmalen, an den Orchestergraben gedrängten Bohème-Mansarde zur Seite und geben den Blick auf die Hinterbühne frei: auf ein Meer von Sonnenblumen, deren unbewegte Unschuld und Schönheit man nicht erwartet hat und die mit der Tristesse des Lebens der Bohème aufs Schärfste kontrastieren.

Aussenseiter als Lebenskünstler
Und doch verdankt das Bild seine Wirkungskraft einem Déjà-vu-Effekt. Landschaftsbilder mit Korn- und Blumenfeldern hat man dutzendfach im Kino gesehen. Tatsächlich liess sich der belgische Regisseur Philippe Sireuil bei seiner ersten Arbeit für die Zürcher Oper vom Kino inspirieren. Im Sinn von Aki Kaurismäkis Verfilmung des Bohème-Stoffes interessierte ihn das «Dasein von Aussenseitern», von jungen Menschen am Rand der Gesellschaft, die nur als Lebenskünstler über die Runden kommen. Dazu gehört der Realismus der sparsamen Bühnenbilder von Vincent Lemaire und der zeitlosen Kostüme von Jorge Jara, die teils gar aus dem Brockenhaus stammen.

Konventionell nacherzählend
Um mit den Klischees der Bohème-Romantik zu brechen, genügt das freilich nicht. Und die Idee, Puccinis Oper mit ihrem Hang zu Breitwandemotionen im Stil des modernen Gefühlskinos zu thematisieren, ist auch nicht neu: Diesen Weg ging bereits vor Jahren die letzte Bohème-Produktion im Luzerner Theater, indem sie ironisch mit Versatzstücken der Pop-Kultur und des Popcorn-Kinos spielte. Sireuils konventionell nacherzählendem Regiestil geht solche Ironie ab. Er macht Puccinis populärste Oper eher zu einem Vorläufer des Hollywood-Kinos, das ganz direkt auf grosse Gefühle setzt.

Da ist, wie gehabt, Marcello das verkannte Genie, das sich als «Kneipenmaler» durchs Leben schlagen muss, auch wenn er sich mit einem selbst gestrickten Schlabberpullover den Anstrich eines selbstgewählten Aussteigertums gibt. Und Rodolfo ist auch hier nichts anderes als ein selbsternannter Poet, der Manuskripte nur für die Schublade schreibt - und damit bestenfalls noch den Ofen seiner Künstlerbude heizen kann. Dass die verschüchterte Mimì keck die Initiative ergreift, um den frisch Verliebten Rodolfo zum Weihnachtsmarkt zu schleppen, ist da nur ein punktueller Regie-Versuch, aus herkömmlichen Bohème-Klischees auszubrechen.

Für eine eigenständige Neuinterpretation ist das zu wenig, auch wenn im dritten Akt ein menschenleerer Zugsbahnhof ein stimmungsvolles Bild für existenzielles Unterwegssein und Heimatlosigkeit schafft. Die Verbindung der realistischen Milieustudie mit dem grossen Gefühlston der Oper machte mit die epochale Bedeutung der Bohème aus. Aber seit eben das Hollywood-Kino ähnliche Szenarien in ungleich opulenteren Bildern auf die Leinwand bringt, wirkt der biedere Realismus, wie ihn Sireuil im Grunde bietet, auf der Opernbühne nur mehr wie ein Abklatsch.

Entschlackter Ton
Was indes hervorragend funktioniert, ist die musikalische Seite der Produktion. Franz Welser-Möst, der am Premierentag einen Vertrag als Generalmusikdirektor des Opernhauses für sechs Jahre unterschrieb, verleiht der Orchesterpartitur mit entschlacktem Ton ein Höchstmass an Farbigkeit und dramatischer Schärfe. Zugleich lässt er die grossen Gefühlsaufschwünge in weiten Bögen atmen. Vor allem aber sind in den Hauptrollen vorzügliche Stimmen zu hören.

Beeindruckende Mimì
An erster Stelle zu nennen ist die chilenische Sopranistin Cristina Gallardo-Domâs: Mit einer Stimme, die überraschend auch über dunkle Timbres verfügt, verbindet sie in der Rolle der todkranken Mimì Zerbrechlichkeit mit überbordendem Gefühls- und Leidensausdruck. Trotz einzelner Anstrengungen steht ihr der Rodolfo von Marcello Giordani mit dramatischem Impetus ebenbürtig zur Seite. Michael Volle als prächtiger Marcello und Elena Mosuc als verführerisch schillernde Musetta setzen sich zudem mit natürlichem Ausdruck auch darstellerisch über eine Personenregie hinweg, die sich selbst im bunten Weihnachtstreiben (mit vorzüglichem Theater- und Kinderchor) im Quartier Latin in Stereotypen erschöpft.

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Neue Zürcher Zeitung

5. 7. 2005 / Marianne Zelger-Vogt

Im Strom der Gefühle
«La Bohème» von Giacomo Puccini im Opernhaus

Ausgerechnet «La Bohème» für eine hochsommerliche Festspielpremiere, ein Stück über junge Menschen, die zur Weihnachtszeit in einer Pariser Dachkammer schlottern! Sobald die ersten Takte erklingen, sind alle Zweifel verflogen, gibt es nur noch diese eine, in jugendlichem Gefühlsüberschwang pulsierende Welt der Bohémiens. Franz Welser-Möst, der frisch installierte Generalmusikdirektor des Opernhauses, und sein Orchester geben der Musik Giacomo Puccinis alle Zartheit und Leidenschaft, allen Schmelz und alle Härte, alle Farbigkeit und Drastik, die ihr eingeschrieben sind, und schlagen dabei über die vier Bilder hinweg einen weiten Spannungsbogen - ein musikalischer Höhepunkt zum Saisonende und eine würdige Hommage an den im Februar verstorbenen Dirigenten Marcello Viotti, der diese Festspielpremiere hätte leiten sollen.

Die Neuproduktion zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass Klang und Bild im besonderen Mass übereinstimmen. Vincent Lemaires offene, sparsam möblierte Bühne verschafft der Musik nicht nur Raum, sie vollzieht deren Duktus mit, zeigt, wie klar die so spontan, ja improvisiert wirkenden Szenen gebaut und strukturiert sind. Das gilt insbesondere für die fast symmetrischen Entsprechungen zwischen den beiden Bildern in der glasüberdeckten Dachkammer, von denen das zweite nicht nur den Übermut der mittellosen Künstler, sondern - mit dem Eintreten der sterbenden Mimì - auch die Innigkeit und Gefühlsintensität des ersten steigert. Dass dabei die Rückwand zweimal fällt, zuerst beim Übergang ins zweite Bild, am Schluss, bei Mimìs Tod, um den Blick auf ein Feld voller Sonnenblumen freizugeben, deren Symbolik den Realismus von Philippe Sireuils Spielführung bricht, müsste allerdings nicht sein. Die Parallelität von Musik und Szene erweist sich auch in der extremen Kontrastierung der zwei mittleren Bilder: hier das faschingshafte Gewimmel vor dem auf ein paar Stühle reduzierten Café Momus, dort (anstelle der Barrière d'Enfer) die trostlose Leere eines nächtlichen Bahnhofs mit Stundenhotel.

Nicht nur für die Musik, auch für die Figuren schaffen diese Bilder Raum, und Philippe Sireuil, der belgische Regisseur, der erstmals am Zürcher Opernhaus wirkt, lässt ebenso wie der Kostümbildner Jorge Jara keinen Zweifel daran, dass die von Henri Murger vor 150 Jahren zum Leben erweckten Pariser Bohémiens auch für unsere Zeit Inkarnationen der Jugend mit ihren Nöten und Freuden, ihren Schmerzen und Hoffnungen sind. Was immer Mimìs Krankheit sein mag: Wie hier ein junges Leben auslöscht, eine Gemeinschaft erschüttert wird, das hat die Kraft existenzieller Erfahrung. Um Cristina Gallardo-Domâs' Mimì weht von Anfang an eine leise Melancholie, die ihr Aufblühen im Liebesglück mit dem Dichter Rodolfo umso strahlender, ihr Sterben umso ergreifender macht und die auch dann in ihrem schlanken, fein abgetönten Sopran mitklingt, wenn dieser sich kraftvoll in die Höhe schwingt und ins Forte ausgreift. Wie anders die temperamentvolle, kapriziöse Musetta von Elena Mouc, deren Sopran mühelos von virtuoser Brillanz zu satter Wärme findet.

Weniger ausgewogen das Quartett der Künstler-Freunde. Der Tenor von Marcello Giordani klingt in der Partie des Rodolfo reichlich schwer, laut und wenig geschmeidig. Da weist Michael Volles Marcello in Stimme und Darstellung weit mehr Facetten auf. Cheyne Davidsons Zurückhaltung entspricht der Rolle des stillen Musikers Schaunard, während László Polgár in seiner grotesken Aufmachung als Colline nur am unverwechselbaren Timbre seines Basses wiederzuerkennen ist. Einen Farbtupfer setzt im zweiten Bild Giuseppe Scorsins geckenhafter Alcindoro, nachdem Rolf Haunsteins Hausmeister Benoît die übermütigen Freunde mit grauer Spiessigkeit konfrontiert hat. Sireuil versteht es, sie alle lebendig miteinander kommunizieren zu lassen, und nicht nur im Spiel der Bohémiens und ihrer Freundinnen, auch beim Auftritt der Chöre zum fröhlichen Weihnachts-Strassenfest gibt es manch sprechendes Detail zu entdecken in dieser impressionistisch leichten, doch sehr präzisen «Bohème»-Einstudierung.

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St. Galler Tagblatt

5. 7. 2005 / Verena Naegele

Gut verträgliche Leichtigkeit
«La Bohème» am Opernhaus Zürich: In memoriam Marcello Viotti

Eigentlich hätte Marcello Viotti dirigieren sollen. Nun wurde «La Bohème» zur eindrücklichen «In memoriam»-Veranstaltung für den im Februar verstorbenen Maestro.

Nach dem Tod Mimis wird die beengende Rückwand von Rodolfos Mansardenzimmer beiseitegeschoben, und der Blick weitet sich auf ein über und über mit Sonnenblumen übersätes Feld. Mit diesem überkitschigen Bild zerstören Regisseur Philippe Sireuil und sein Bühnenbildner Jorge Jara eine zwar konventionelle, aber in sich stimmige Inszenierung zum Schluss gleich selbst - bewusst?

Der belgische Regisseur, der noch von Marcello Viotti nach Zürich geholt worden war, stellt in seiner Inszenierung die unerträgliche Leichtigkeit des Seins in den Mittelpunkt seiner Dramaturgie. Milan Kunderas berühmte Aussage und Aki Kaurismäkis Verfilmung der «Scènes de la vie de Bohème» sind den ganzen Abend hindurch präsent. Ja, die Inszenierung hat mit ihrer Realitätsnähe insgesamt stark cinéastischen Charakter. Die Möblierung des Mansardenzimmers besteht aus einigen Küchenhockern und einem uralten Sofa aus dem Brockenhaus. Auch die Kostüme von Protagonisten, Chor und Kindern stammen allesamt aus Second-Hand-Shops.

Starkes Frauenporträt
Wunderbar ist, wie Sireuil diese realistische Bohème-Welt der vier Lebemänner zeichnet, wie unbekümmert, aber auch sinn-entleert Rodolfo und seine Kumpane die Zeit totschlagen. Und auch wenn Cheyne Davidson (Schaunard), Laszlo Polgar (Colline), Michael Volle (Marcello) und Marcello Giordani (Rodolfo) die hohen schauspielerischen Vorgaben nicht immer erfüllen, so wird doch deutlich, wie ziellos und desillusioniert sie durch die Welt torkeln. Dass da die kranke Mimi keine Überlebenschance hat, ist klar.

Cristina Gallardo-Domas ist im Moment wohl die berühmteste Mimi überhaupt. Mit ihrem wunderbaren Lirico-Spinto-Sopran beherrscht die Chilenin die beschaulichen Momente wie die grossen Gefühlsausbrüche ohne Makel. Am meisten imponiert aber, welch ernsthafte und starke Frau ihre Mimi ist, welch reichen farblichen und mimischen Facetten sie ihrem Porträt verleiht. Zusammen mit der koloraturgewandten und quirlig agierenden Elena Mosuc als Musette ergibt sich so ein spannungsreiches, gegensätzliches Frauenpaar.

Mimi zur Seite steht mit Marcello Giordani ein Sänger, der ebenfalls die leisen Töne pflegt, auch wenn er mit Emphase seinen vielbejubelten Tenor präsentiert. Überhaupt erlebt man eher selten so viele leise, bewegende Töne wie an diesem Abend. Zu danken ist das auch Franz Welser-Möst, der Wert auf hohe Klangkultur legt - manchmal allerdings allzu geradlinig musiziert. Das Duett von Rodolfo und Marcello, in welchem sie ihrer verloren geglaubten Liebe nachtrauern, hat gar etwas Walzerhaftes an sich. In solchen Momenten vermisste man schmerzlich Viottis sicheres Gespür für Italianità.

Tücken der Rhythmen
Eine Überraschung mit Tücken bildet der nahtlose Übergang vom 1. Bild in der Mansarde zum 2. Bild im Quartier Latin. Durch das Herunterklappen der Mansardenrückwand befindet man sich unvermittelt im bunten Strassentreiben, das Sireuil und Lichtgestalter Hans-Rudolf Kunz in stimmiges Rotlicht tauchen.

Was szenisch überzeugt, wird musikalisch zur Gratwanderung: Welser-Möst musste an der Premiere all sein Können aufbieten, um die vielen rhythmischen Unsauberkeiten der Massen auszugleichen. Dann aber legte Michael Volle mit warmem vollem Bariton und die kleine Elena Mosuc einen Streit aufs Parkett, dass es eine Freude war.

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Die Südostschweiz

6. 7. 2005 / Reinmar Wagner

Auf Sonnenblumen gebettet
An den Zürcher Festspielen begeistert das Opernhaus mit Puccinis «La Bohème»

Alles stimmt an dieser «Bohème», die am Sonntag in Zürich den Höhepunkt der Festspiele markierte: Eine Inszenierung wie aus einem Guss und eine überzeugende musikalische Umsetzung unter Chefdirigent Franz Welser-Möst.

Es hätte eigentlich Marcello Viotti sein sollen, der diese Premiere dirigiert hätte. Viotti ist vor einigen Monaten gestorben. Er wurde an der Premiere durch eine Schweigeminute geehrt. Im gleichen Atemzug quasi konnte der Opernhaus-Chef Alexander Pereira bekannt geben, dass Franz Welser-Möst, der eine kurze Auszeit als Chefdirigent genommen hatte, nun für die nächsten sechs Jahre als Generalmusikdirektor ans Haus gebunden werden konnte (siehe Kasten).

An Kitschsauce gespart
So wie der Österreicher diese «Bohème»-Premiere dirigierte, kann man über diesen Schritt nur glücklich sein, umso mehr als auch das Orchester mit Dreiviertelmehrheit dahinter steht. So klang es denn auch aus dem Graben: Engagiert, wach und aufmerksam, reaktionsschnell und klanglich differenziert in allen Schattierungen zwischen kammermusikalischer Delikatesse und Vollfettsound. Denn Welser-Möst war klug genug, nicht den Sentiment-Kübel und die Kitschsauce pausenlos über Puccini zu giessen. Wie wir das von ihm kennen, suchte er sein Heil in einer überaus differenzierten dynamischen Gestaltung.

Immer wieder holte Welser-Möst in Piano- und Pianissimo-Regionen Anlauf, um die Höhepunkte der Puccini-Linien umso wirkungsvoller ausbreiten zu können. Immer wieder auch liess er die Klangfarben ausfächern und konnte sich dabei auf seine Orchestersolisten verlassen. Bloss die rhythmische Prägnanz und Konstanz, die könnte in den folgenden Vorstellungen noch gesteigert werden.

Balsam für die Stimmen
Eine solche Orchester-Basis war auch Balsam für die Stimmen der Sänger, denn sie haben in ihren kräftezehrenden, stets orchestral auch mitgeführten Linien normalerweise bei Puccini nur wenig Gelegenheit, in dynamischen Mittelregionen Vielseitigkeit zu beweisen.

Das Paradebeispiel für das Ausnutzen dieser Möglichkeiten war Marcello Giordani als Rodolfo, der zwar zu Beginn etwas rau klang und auch zwischendurch hin und wieder mit den Tücken seiner Partie kämpfte, der aber alle Ebenen der klangfarblichen und dynamischen Nuancen seiner Stimme auskostete und dadurch seine Partie sehr lebendig gestaltete. Dass er sich auf die Höhepunkte hin dann auch immer mal wieder mitreissen liess und die volle Kraft seiner beneidenswert geschmeidigen Stimme aufglühen liess, gehört mit zu den stilistischen Eigenarten von Puccinis Musik. Dirigent Welser-Möst hielt es ebenso, und die anderen Sänger, wenn sie denn gekonnt hätten, hätten nicht weniger aufgedreht.

In die Tasche gesteckt
Nicht dass sie abgefallen wären, im Gegenteil – doch von seiner Stimmkraft her steckte Giordani sie in die Tasche. Die chilenische Sopranistin Cristina Gallardo-Domas sang zum ersten Mal am Zürcher Opernhaus, aber ihre Mimi liess keinen kalt in dieser Vorstellung, so intensiv und berührend und lebensecht sang und gestaltete sie diese Partie. Dasselbe lässt sich von Micheal Volle in der Rolle des Malers Marcello sagen, während die Musetta von Elena Mosuc bei allem Bemühen um jugendliche Koketterie und mühelosen Sopran-Höhen doch etwas aufgesetzt und gemacht wirkte. Wie fast immer in Zürich waren die Nebenrollen exzellent besetzt. Und besonders herausragend gerieten den diversen Chören, inklusive einem Kinderchor, ihre anspruchsvollen Aufgaben im zweiten Akt.

Selbst diese schwierig zu inszenierenden Chor-Szenen mit ihren quirligen, ständig in Bewegung bleibenden Menschentrauben, inszenierte der in Zaire geborene belgische Regisseur Philippe Sireuil mit leichter Hand, grosser Natürlichkeit und unglaublichem Detailreichtum. Diese Feststellung gilt für die ganze Inszenierung und auch für das Bühnenbild von Vincent Lemaire: Rodolfos Studentenbude, das Café Momus und ein frühmorgendlich-verschlafener Bahnhof, alles so, wie man es sich vorstellt, wie es aus Henry Murgers Roman vor unseren Augen ersteht, mit Menschen aus Fleisch und Blut.

Detailliert, aber humorvoll
Sireuil hat fast schon minutiös der Partitur und dem Libretto entlang inszeniert, was bei dieser Oper auch etwas vom Klügsten ist, was man als Regisseur tun kann. Fast alles nämlich, die Bewegungen, Requisiten, Umgebungen, sind durch die Sätze der Darsteller vorgegeben und werden erst noch in Puccinis Musik häufig verdoppelt. Schon sehr lange habe ich keine Operninszenierung mehr gesehen, die so detailliert und genau und dabei immer wieder auch mit humorvollen Einfällen einfach souverän das auf die Bühne stellt, was drin ist im Stück. Selbst der Schluss, wenn sich nach Mimis Tod die Wände öffnen und den Blick auf hundert glühende Sonnenblumen freigeben, erhält durch die Enthaltsamkeit an Symbolismen davor in seiner ganzen Einfachheit seine beabsichtigte packende Wirkung und eindringliche Überhöhung dieses jungen Todes.

Wer wollte, konnte übrigens diese Premiere verfolgen, ohne einen Rappen Eintritt zu bezahlen. Um zwei Stunden zeitversetzt wurde sie nämlich auf die Grossbildleinwand auf dem Münsterplatz übertragen, wo auch während der Zürcher Festspiele an vier Abenden jeweils Höhepunkte des Programms im Opernhaus und in der Tonhalle bei freiem Eintritt unter freiem Himmel gezeigt wurden.

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Tages-Anzeiger

5. 7. 2005 / Thomas Meyer

Und am Ende ein Tod mit Sonnenblumen
Solide Inszenierung, vokale Höhepunkte: Puccinis «La Bohème» beschliesst die Saison am Zürcher Opernhaus.

Draussen zuvor das Gepränge mitsamt Riesenrad, und drinnen laufen danach die Seelendramen menschlicher Verzweiflung ab. Die Diskrepanz ist so alt wie das Genre, als die Renaissancefürsten sich an den Leiden hübscher Hirten und Hirtinnen ergötzten. Hier stirbt eine arme Grisette an Schwindsucht, so wie es in den «Scènes de la vie de bohème» des Henri Murger (der selber elend starb) beschrieben wird. Es gibt darin kaum sozialen Zündstoff, hier rührt uns eine unglückliche Liebesgeschichte. Die Aktualisierung von «La Bohème» rund um die Frage, was denn das für ein Leben sei, findet im Foyer oder draussen statt. Auf der Bühne selber ist gar nicht viel damit zu machen. Es wird denn auch wenig damit gemacht.

Die bohèmienhafte Künstlergruppe, die uns hier entgegentritt, gibt sich fast sympathisch beschwingt, selbst wenn sie ebenso einfallsreich wie hilflos an ihrer Armut leidet. Giacomo Puccinis Oper enthält viele komische Elemente, die umso schlüssiger in eine traurige Geschichte münden und die - das ist die zwingende Konsequenz des Librettos - tatsächlich von der Kunst handeln, denn um was anderes geht es beim Sterben der Mimi als um eine neue Version des Orpheus-Mythos: «Perchè son io il poeta, essa la poesia», singt Rodolfo über sich und Mimi. Liebt er sie wirklich? Oder nur ein Bild in ihr? Das Stück ist realistisch darin, dass sich dieser Orpheus von seiner Eurydike trennen will, weil er kein Geld hat, um sie vor dem Tod zu erretten. Im Übrigen aber ist Mimi ein weiteres jener Frauenopfer, die den Weg zarter Dichterseelen polstern. Und wie sie dahinstirbt! So zärtlich, so ruhig! Wie sie sich abwesend macht! Das ist schon die grosse, subtile Kunst Puccinis.

Existenz-Gewurstel
Auf diesen Schlusspunkt steuert der Abend hin, in der Musik wie in der Inszenierung. Wir kehren da in die Künstler-WG von Rodolfo und seinen Kumpanen, dem Maler Marcello (Michael Volle), dem Philosophen Colline (László Polgár) und dem Musiker Schaunard (Cheyne Davidson), zurück. Dort hatte alles begonnen, im kalten Winter: das Existenz-Gewurstel des agilen Künstlerquartetts, die Liebe Rodolfos zu Mimi. Am Schluss sind wir wieder dort. Alle versuchen, der Sterbenden noch etwas zuliebe zu tun. Sie sitzen um das Sofa, auf dem sie wegsinkt.

Das kommt an diesem Abend ohne viel Aufwand aus und hat eine leicht schmuddelige Patina, wie es sich gehört, ein bisschen pittoresk, aber wir sind halt punkto Schmuddeligkeit von Christoph Marthaler und Anna Viebrock verwöhnt. (Das wäre ein Regieteam gewesen!) Die Inszenierung des Belgiers Philippe Sireuil setzt auf Schlichtheit. Der Weihnachtsmarkt des zweiten Bilds wirkt zwar ein bisschen überdreht, es gleicht in dieser Neuinszenierung eher einer Silvesternacht, aber die karge Szene im dritten bei der Zollschranke mit dem daneben situierten Cabaret erweist sich als stimmungsvoll. Das Bühnenbild entwarf Vincent Lemaire. Die Kostüme (Jorge Jara) zeigen die Menschen in ihrer Unbeholfenheit und manchmal in ihrer Lächerlichkeit: kein falscher Glanz. Nur weniges wirkt karikierend, selbst der Hausbesitzer, der die Miete einfordert und den die vier Künstler übertölpeln, dauert einen fast.

Neue Perspektiven wird man dieser Arbeit kaum abgewinnen können, aber sie ist solide gebaut. Und Philipp Sireuil führt die Darsteller auf meist unaufdringliche Weise: Einzig die Mimi von Cristina Gallardo-Domâs wirkt vom ersten Auftritt an ein bisschen arg leidend, als habe sie es darauf angelegt, damit aufzufallen. Dafür hüstelt sie nur spärlich. Sonst gibt es schöne Details: zum Beispiel, wie sich die Männer, zumal Marcello und Rodolfo, immer wieder Zigaretten anzünden, die sie aber kaum fertig rauchen, weil jemand dazwischenkommt - ein kleines Leitmotiv. Überhaupt der Rauch: Rodolfo und Marcello verbrennen ein Manuskript im Ofen, dessen Rohr steil in den Himmel aufsteigt. Das ist weniger der Rauch der Vergänglichkeit als ein Gestus, der heikle Situationen überbrücken hilft. Der Griff zur Zigarette. Das zeigt Sireuil auf hintersinnige Weise, und in solchen Momenten spielt besonders Michael Volle als Marcello neben der vokalen auch seine ganze darstellerische Differenziertheit aus.

Ursprünglich sollte Marcello Viotti dirigieren. Er starb überraschend am 16. Februar. Seinem Andenken ist die Aufführung gewidmet. Der frisch zum Generalmusikdirektor erkorene Franz Welser-Möst übernahm die Leitung, und er geht das Stück nun mit der 75von ihm gewohnten Klangfeinheit und Bedachtsamkeit an, lässt keinen Schwulst zu und seziert doch nicht kühl.

Das Publikum klatschte einfach drein
Der Schluss gerade klingt berückend, und es gibt viele feine Stellen mit dem Orchester der Oper Zürich zu hören, viele grosse Aufschwünge auch. Trotzdem fehlte am Premierensonntag noch die letzte formale Durchgestaltung, ein paar Probetage halt. Puccinis Partitur nämlich enthält, so eingängig und schlüssig sie ist, zahllose Sprünge. Das mit Eleganz und auf organische Weise anzugehen, gelingt an diesem Abend noch nicht immer. (Aber wie sollte es etwa im ersten Bild funktionieren, wenn nach den Solopassagen dreingeklatscht wird? Puccinis Stücke sind keine Nummernopern!) Im Kontakt mit den Sängern führt das dazu, dass die dynamischen Spitzen nicht rund genug geformt sind, die Übergänge zwischen piano und forte. Der sehr ausdrucksstarke und eindrückliche Rodolfo von Marcello Giordani etwa springt so oft unvermittelt vom leichten Parlando in einen leidenschaftlich starken tenoralen Ton, den er aufs Schönste beherrscht. Auch der brillanten Musetta von Elena Mosu könnte in der Höhe eine gewisse Abfederung gut tun. Cristina Gallardo-Domâs überzeugt als anrührende, die ganze Spannbreite der Palette ausnutzende Mimi: keine besonders warme, aber eine wandelbare, feine und kräftige, ausdrucksreiche Stimme.

Und so könnte sich das Werk auf stimmige und bewegende Weise schliesslich zum Ende neigen, folgte da nicht ausgerechnet der einzige originelle Ausfall des Regieteams: Während Rodolfo vom Tod Mimis erfährt, öffnet sich die Wand der Mansarde und gibt den Blick auf ein Sonnenblumenfeld frei. Wos doch das ganze Stück über so fröstelig kalt war! Jedenfalls gucken die Blumen reichlich dumm aus der Wäsche.

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Zürcher Oberländer

5. 7. 2005 / Sibylle Ehrismann

Heisse Gefühle, die aber frieren lassen
Premiere von «La Bohème» im Opernhaus Zürich - Übertragung auf den Münsterplatz

Mit einer überzeugenden Premiere der Puccini-Oper «La Bohème» bewies der Dirigent Franz Welser- Möst, dass er für das Zürcher Publikum als Generalmusikdirektor des Zürcher Opernhauses eine exzellente Wahl ist.
Mitten im Sommer bringt das Opernhaus Zürich mit Puccinis «La Bohème» eine Oper über das Frieren. Und es nimmt mit dieser Festspiel-Premiere Abschied vom Schweizer Dirigenten Marcello Viotti, der diese Produktion eigentlich hätte dirigieren sollen. Das Premierenpublikum ehrte den mit erst fünfzig Jahren verstorbenen Maestro mit einer Gedenkminute.

Gleichzeitig konnte Intendant Alexander Pereira mitteilen, dass Franz Welser-Möst, welcher diese Produktion trotz grosser Arbeitsdichte übernommen hat, seinen Vertrag als Chefdirigent am Opernhaus Zürich um weitere sechs Jahre verlängert.

Freies Studentenleben
Wer fühlt sich nicht an die eigene Studienzeit erinnert, wenn er «La Bohème» sieht und hört. Die Enge einer Mansarde, die man mit Kommilitonen teilt, das ungebundene Leben ohne Geld, das Ausleben der Liebe ohne festere Bindung. Puccini hat aus diesem Stoff eine Oper gemacht, die mit der sterbenden Mimi eine desolate Note bekommt. Die «Bohémiens» bleiben Bohémiens, die Kälte wird tödlich, und die Welt nimmt ihren Lauf. Regisseur Philippe Sireuil betont dieses sinnenleerte «In sich Drehen» der Geschichte mit einem ziemlich kahlen, aber über die vier Bilder hinweg einfach und aussagekräftig wandelbaren Bühnenbild von Vincent Lemaire.

Wandelbares Bühnenbild
Die Mansarde im ersten Bild nimmt zwar die ganze Bühnenbreite ein, ist jedoch gegen hinten und oben geschlossen. Die Requisiten sind spärlich und stammen aus einem Brockenhaus: ein altes Sofa, auf dem auch geschlafen wird, ein Küchentisch mit vier Stühlen. Der kompositorisch nahtlose Übergang ins zweite Bild - dem turbulenten Volksfest mit Kinderchor - wird mit dem Fallen der Rückwand und dem Heben der Decke schnell bewältigt. Das dritte Bild, in dem Mimi versucht, ihren Rodolfo zurückzugewinnen, spielt wieder in ähnlichem Dekor wie das erste, nur dass es sich nun um einen verlassenen Bahnhof handelt, in welchem frühmorgens Nebelschwaden aufsteigen. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt zurück in die Mansarde, wo Mimi schliesslich stirbt.

Was bis dahin in sich schlüssig wirkt, wird dann aber am Schluss mit unnötigem Kitsch befrachtet: im Moment, als Mimis Tod eintritt, erscheint im Bühnenhintergrund auf einen Schlag ein grosses Sonnenblumenfeld. Mimis Sehnsucht nach echten Blumen wird im Moment der Erlösung Wirklichkeit - aber so plakativ und kitschig, das stört im Moment der Trauer von Rodolfo ungemein.

Musikalisch überzeugend
Musikalisch ist diese Zürcher «Bohème» von erstaunlicher Transparenz im Orchester und besonders stark in den leisen Tönen der Melancholie. Mit Cristina Gallardo-Domâs konnte die zur-zeit wohl gefragteste Mimi-Darstellerin verpflichtet werden. Unerhört ist ihre Mischung von schlichter Natürlichkeit in der Stimmführung und inniger lyrischer Kraft. Auch ihr subtiles Gehör für das Orchester ist einzigartig, weiss sie doch ihre Stimme differenziert einzubringen. Und daneben die temperamentvolle Musetta, welcher Elena Mosuc eine helle, vitale Strahlkraft und eine packende Bühnenpräsenz verleiht.

Marcello Giordani ist ein Tenor, der auch innige und leise Töne zu gestalten weiss. Als Dichter Rodolfo schwankt er angesichts seiner Liebe zu Mimi am stärksten zwischen Freiheitsdrang und Verantwortung. Und er vermag diesen Zwiespalt glaubhaft darzustellen. Die erste Begegnung der beiden und die musikalisch betörende Liebesbeteuerung ist von hinreissender Schönheit.

Aber auch Michael Volle setzt als Marcello und eifersüchtiger Freund Musettas mit seinem farbenreichen Bariton stark prägende Momente. Das «Bohémiens»-Quartett wurde stimmig ergänzt mit dem strahlenden Bass von Laszlo Polgar (Philosoph Colline) und dem komödiantischen Schaunard von Cheyne Davidson.

Puccini ganz transparent
Es bleibt, dem Orchester und Franz Welser-Möst für diesen hochkarätigen Premierenabend zu gratulieren. Die bildhafte und sehr subtile Instrumentationskunst von Puccini wurde wunderbar transparent gemacht. Eine derartige Nuancierung des Klangs, eine so vielsagend differenzierte Ausdruckspalette hört man in der Oper nur ganz selten. Auch wenn Welser-Möst vor allem im zweiten Bild etwas zu geradlinig durchzog und dadurch deutliche Wackler des Chores provozierte, Puccinis Musik konnte sich unter seiner Stabführung reichhaltig entfalten.

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Zürichsee-Zeitung

5. 7. 2005 / Werner Pfister

Der Künstler als Fokus der Kunst
Neuinszenierung von Puccins «La Bohème» als Beitrag des Opernhauses zu den Zürcher Festspielen

Keinerlei Pariser Postkarten-Idylle, nicht einmal die Idylle der Innerlichkeit scheint In dieser neuen «Bohème» auf. Das Inszenierungsteam setzt ganz auf die Lebensrealität der Bohemiens, auf Armut und Desillusion und die illusorischen Träume von Liebe und einer besseren Zukunft. Ein grosser Erfolg.

Das Künstlertum als Lebensdevise oder zumindest der Traum davon, der Traum von ungebundener Freiheit, deretwegen der Bohemien die Beschränktheit, die Not und Bedürftigkeit der eigenen Existenz in Kauf nimmt - das alles ist Realität und Romantik zu gleichen Teilen. Jedenfalls in Giacomo Puccinis Oper «La Bohème». Zwar gibt es Zeugnisse des Komponisten, dass er selber, damals Student am Mailänder Konservatorium, in solch dürftigen, quälenden Lebensverhältnissen vegetierte. Genau davon, von solcher Erlebnisrealität, erzählen auch Henri Murgers Szenen «La vie de Bohème» von 1845/49, die dem Opernlibretto zugrunde liegen.

Doch, fünfzig Jahre später, als sich Puccini an die Komposition des Stoffes machte, kam noch ein anderes hinzu: der Künstlers als Fokus der Kunst. Um die vorletzte Jahrhundertwende entdeckte der Künstler nämlich sich selbst als Gegenstand seiner Kunst und machte Kunst zum Gegenstand seiner Werke. Künstler wurden zu Opern-Protagonisten, im «Andrea Chénier», in «Adriana Lecouvreur», auch in der «Bohème» von Leoncavallo oder später in Puccinis «Tosca». Es sind reale Künstler und gleichzeitig soziale Archetypen; aus ihrer dramatischen Lebensrealität wird in der Oper eine melodramatische.

Brockenhaus-Chic
Von diesem spannenden Zwiespalt lebt Puccinis «La Bohème», seit einem Jahrhundert eine der meistgespielten Opern überhaupt. Und es ist ein grosses Verdienst des Regisseurs Philippe Sireuil, dass in seiner Zürcher Neuinszenierung dieser Zwiespalt stets gegenwärtig ist, das Publikum zum Mitschmunzeln anregt und auch (wir haben es gesehen) zu heimlichen Tränen rührt. Vincent Lemaire hat Bühnenräume gebaut, die realistischer kaum wirken könnten - weil sie nicht einem platten Realismus frönen, sondern mit Möbeln und Gegenständen, die an den studentischen Brockenhaus-Chic von netten Hausbesetzern erinnern, Realität versinnbildlichen.

Erstes und viertes Bild spielen in einer engen Mansarde mit Blech- oder blindem Milchglas-Dach; das dritte Bild - das eindrücklichste - zeigt ein tristes Bahnhofsperron mit Billettschalter und Buffet. Besonders souverän gelingt der Wechsel vom ersten zum zweiten Bild. Nahtlos, ohne Umbaupause, geht es von der engen Mansarde direkt auf einen Platz im Quartier Latin, von der intimen Liebeszweisamkeit zum schreiend bunten Volkslärm auf dem Weihnachtsmarkt.

Leopardenpelz-Imitat
Warum die Leute, wo sie sonst die ganze Oper hindurch frieren, ausgerechnet hier draussen, am Heiligen Abend bei frostigen Wintertemperaturen, kurzärmlig und in kurzen Sommerröckchen daherkommen, weiss vielleicht der Kostümbildner Jorge Jara. Dennoch bewundert man sein fantasievolles Einfühlungsvermögen: Mimì in ihrer zu grossen, abgewetzten Lederjacke im dritten Bild, das hat kostümbildnerisch psychologische Dimensionen. Dasselbe gilt für die Leopardenpelz-Imitate Musettas, betont eng anliegend geschnitten: (lebens-)praller kann man sich diese Figur kaum vorstellen.

Mit adäquatem psychologischem Geschick führt Regisseur Philippe Sireuil die Figuren. Fast ganz ohne Klamauk in den ausgelassenen Szenen des ersten und vierten Bildes; mit einer zuweilen magistralen Zärtlichkeit im dritten Bild, das die Vereinsamung dieser Bohemiens zeigt, denen selbst die Liebe verödet in ihrem von einer unerträglichen Leichtigkeit geprägten Dasein. Genau hier scheint denn auch plötzlich die aktuelle Lebensgegenwart der heutigen jungen, desillusionierten Generation auf.

Wie einst bei Karajan
Auch musikalisch überzeugt diese Neuinszenierung. Franz Welser-Möst, der neu gekürte Generalmusikdirektor am Opernhaus, legt den Sängern einen wunderbar weich flauschigen Klangteppich zu Füssen, wohlklanggesättigt und gleichzeitig mit herben dramatischen Akzenten durchwirkt. Sentiment und Raffinement halten sich im Orchesterklang subtil die Waage (wie einst bei Karajan), Poesie und Prunk der Klangfarben ebenfalls. Das Seelenvolle der Musik, der breite Strom des Melos, wird nie zu tränenseligem Schwall aufgeblasen, sondern mit ebendieser fast unerträglichen Leichtigkeit gekostet.

Ein grosser Erfolg auch für die Sängerinnen und Sänger, vom Publikum lange und frenetisch beklatscht. Marcello Giordani verfügt als Rodolfo über eirien kernig strahlenden Forte-Glanz, agiert wendig und sehr engagiert und erlaubt sich immer wieder leisere, reflexive Zwischentöne, dann nicht immer ganz frei von Druck und Verschleierung. Cristina Gallardo-Domâs ist eine unmittelbar anrührende Mimi, die allein schon durch die Unaufdringlichkeit ihrer Bühnenpräsenz fesselt, aber auch stimmlich mit gewaltkräftigen Ausbrüchen imponiert.

Das i-Tüpfelchen
Cheyne Davidson als markiger Schaunard, Làszlò Polgàr als philosophisch ab- oder- aufgeklärter Colline und Michael Volle als überaus wendiger, sehr impulsiver und witziger Marcello ergänzen das Männerquartett der Bohemiens vortrefflich. Das i-Tüpfelchen indes setzt ihnen Elena Mosuc als Musetta auf: draufgängerisch, dass manchmal die Fetzen fliegen, temperamentvoll im Gesang, kokett und selbstsicher im Auftreten - und zum Schluss, im vierten Bild, von einer fast rührenden Gutherzigkeit. Das könnte Anzeichen dafür sein, dass nach dem tragischen Tod Mimìs nichts mehr sein wird, wie es war. Auch für sie.

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Die Presse

5. 7. 2005 / Wilhelm Sinkovicz

Zwischen Gefühl und Moderne
Puccinis "Bohème" in Zürich. Franz Welser-Möst las eine viel geprüfte Partitur neu.

Am Nachmittag war bekannt gegeben worden, dass Franz Welser- Möst seine Arbeit in Zürich fortset zen wird: Bis 2012 wird er als Generalmusikdirektor dem Opernhaus zur Verfügung stehen. Am Abend demonstrierte er, was das bedeuten könnte: Die Premiere von Puccinis "Bohème" wurde vor allem dank der enorm differenzierten Orchesterleistung zu einem bemerkenswerten Ereignis.

Tatsächlich liest dieser Dirigent Partituren offenbar genauer als die meisten seiner Kollegen. Wenn er ein viel gespieltes Werk neu einstudiert, dann sichert das auch jenem Hörer, der die "Bohème" Dutzende Male gehört hat, völlig neue Klangerlebnisse. Puccinis Werk ist in Zürich nun alles andere als ein rührseliger Melodienreigen in weich wattiertem Instrumentalgewand. Unter Welser-Mösts Führung zeichnen die Musiker knappe, klare Konturen, skizzieren mit dem Scharfblick und Witz eines Karikaturisten Charakterbilder der einzelnen Bohemiens und ihres von Ironie, Zynismus und frechem Umgangston geprägten Lebens.

Erst der Auftritt Mimis zeigt die zartfühlende Seite des Komponisten: Mit einem behutsam gehauchten Streicherakkord wendet sich der Charakter der Musik - und die Gefühlswelt des tenoralen Helden: Selten erlebt man einen einzigen musikalischen Moment so intensiv wie diesen unter den Händen der Zürcher Musiker.

Extreme Stimmungswelten, aber auch extreme dynamische Kontraste charakterisieren Mösts Puccini-Lesart, die ernst nimmt, was in den Noten steht, und nicht nivellierend das orchestrale Geschehen dem vorgeformten Bild eines spätromantischen Klangideals anzupassen sucht. Puccini war ein wacher Zeitgenosse der frühen Moderne, ein Vorreiter auch der wahrhaftigen, von Sekunde zu Sekunde flexiblen, aufmerksam alle Seelenregungen, aber auch alle naturalistischen Details widerspiegelnden Kompositionskunst.

So betrachtet, führt von der "Bohème" ein gerader Weg zum "Wozzeck". Ohne dass freilich die Italianità zu kurz käme, wenn Sopran und Tenor einander ihre Liebe gestehen. Dieserart genau gelesen, entpuppt sich "La Bohème" als reiches, aufregendes, in jedem Moment fesselndes Drama. Das Zürcher Orchester erzählt es uns en miniature ebenso beredt wie in den großen, zarten Melodiebögen, die es im entscheidenden Augenblick auch zu spannen versteht.

Das gibt den Sängern die Chance, ihre Stimmen aufblühen zu lassen, wovon Marcello Alvarez als Rudolf, Michael Volle als Marcello und Cristina Gallardo-Domas als Mimi ausgiebig Gebrauch machen. Wobei die Gallardo-Domas, anders als ihr tenoraler Widerpart, auch die Kunst der vokalen Feinzeichnung beherrscht. Sie gibt in der stimmigen, präzis die Handlung erzählenden Inszenierung Philippe Sireuils eine fragile Mädchenfigur, verletzlich und nur in raren Glücksmomenten rosig aufblühend.

Bewegend hilflos ergibt sie sich im dritten Bild in ihr Schicksal, berührend schlicht dämmert sie zuletzt dem Tod entgegen, gar nicht mehr körperlich, so scheint es, in den Armen des Geliebten. Dem stellen die Bohemiens, allen voran die quicklebendige Elena Mosuc als Musetta, das pralle, liederliche, amüsant haltlose Leben entgegen, das in einem Maskenfest kulminiert, in dem auch der Zürcher Chor seine mitreißenden Auftritte hat, von Welser-Möst in zündenden Attacken vorangetrieben.

Das ist, alles in allem, eine Aufführung, die optisch wie akustisch "La Bohème" auf den Punkt zu bringen sucht - heutzutage also eine ziemlich ungewöhnliche Angelegenheit. Umso erfreulicher, dass die Produktion mit Mikrofonen und Kameras aufgezeichnet wird, um in DVD-Gestalt die Zürcher Errungenschaften in die Welt zu tragen. Auf dass man allenthalben erfährt, warum hier ein Erfolgsmodell prolongiert worden ist.

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