Jules Massenet:
Thérèse

 

Aufführung


16. 3. 2002
(Première)

Rezensionen


18 .3. 2002

Melancholie und pure Leidenschaft

Massenet, Mascagni: Schon in den Namen klingt der Kontrast. Ihre Kurzopern zu kombinieren ist eine originelle Idee. Der französisch-italienische Verismo-Abend im Opernhaus findet allerdings keine ideale Balance.

HERBERT BÜTTIKER

Wer kennt ihn nicht, den Jahrhunderthit «Cavalleria» – oder mindestens das Intermezzo daraus: die sich aussingende Lebenslinie, in der der südliche Himmel Siziliens mitkomponiert scheint. Das Werk, das von der Uraufführung
(1890) an Furore gemacht und ein neues Kapitel der Operngeschichte aufgeschlagen hat, handelt von der Strenge dörflicher Sitte und Religion und dem aufwallenden Blut in den Adern der Menschen. «Viva il vino spumeggiante» singt Turiddu in die Ostergesänge hinein, und ebenso aufbrausend sprengt sie Santuzzas «A te la mala Pasqua», der Fluch gegen den Treulosen.
Steht das alles im deutlichsten Präsens, so ist Massenets Zeitform ganz die Vergangenheit. «Thérese», 1907 in Monte Carlo uraufgeführt, gehört, in der Nähe des «Don Quichotte», zu seinen Spätwerken. Alte Zeiten werden heraufbeschworen. Zwar spielt das Werk in den Revolutionsjahren 1792/93, aber zum Fixpunkt wird musikalisch ein Menuett, das noch weiter zurückführt. Auch führt die fatale Dreiecksbeziehung mehr in die Beschwörung des vergangenen Glücks als in den offenen Konflikt. Turiddus Rivale Alfio zögert keinen Moment und fordert das Duell. Der Girondist André Thorel, der seinem verbannten adeligen Jugendfreund Armand de Clerval das Gut in der Nähe von Versailles und das Leben rettet, ahnt nicht einmal etwas von der Beziehung seiner Frau zu diesem Mann. Statt im Eifersuchtsdrama löst sich der Konflikt im heroischen Bekenntnis zum altehrwürdigen Sittenkodex: André geht für seine Freundschaft auf die Guillotine, Thérèse folgt ihm aus Achtung und Pflichtgefühl. Ihre Liebe bleibt bei Armand, mit dem sie hätte fliehen können.

Vergangenheit und Gegenwart
Der Regisseur Gilbert Deflo und sein Ausstatter William Orlandi haben mit beeindruckender Stimmigkeit auf diese Kontraste reagiert. Für den herbstlichen Schlosspark in Clagny und die grossbürgerliche Stadtwohnung in
Paris der «Thérèse» haben sie zwei malerisch historisierende Bilder entworfen, das sizilianische Dorf dagegen ist, auf zwei geometrische Elemente reduziert – die grosse Treppe der Piazza und eine Mauerfläche –, pointillistisch ganz in die flimmernde Gegenwart von Licht und Farbe aufgelöst. In die Bilder der «Thérèse» fügen sich im genauen Zeitkolorit die Kostüme der Protagonisten und Soldatengruppen, während sich die Sizilianer vor dem abstrakten Hintergrund wie zeitlose Typen abheben und – manchmal auch bloss gefällig, meist aber expressiv – im aktuellen Bühnengeschehen
geradezu ausstellen. Fragwürdig zeigt sich Deflos Neigung zu purer Theatralik in der Inszenierung des «Thérèse»-Schlusses: Ein Gang an die Rampe, ein abrupter – perfekt bewerkstelligter – Szenenwechsel, mit dem Thérèse plötzlich vor der Guillotine steht, treibt ihre Exaltation in eine Effekthaftigkeit, die einer «Tosca» oder einem «Chénier» vermutlich gerechter würde als dem intimen Verismo Massenets.
Die über Jahrzehnte scheinbar bezwingende Verknüpfung der «Cavalleria rusticana» mit Leoncavallos «I Pagliacci» ist in jüngerer Zeit zu Gunsten vielfältiger Experimente aufgelöst worden. Das Opernhaus selber hat vor ein paar Jahren «I Pagliacci» erfolgreich mit einem frühen Werk Puccinis («Le Villi») kombiniert, St.Gallen ebenfalls überzeugend die «Cavalleria» mit de Fallas «La vida breve». In beiden Fällen lag das Hauptgewicht selbstverständlich bei dem jeweils bekannteren Stück – einerseits gerade weil es bekannter ist, andererseits weil es dies natürlich nicht ohne Grund ist: «I Pagliacci» und «Cavalleria rusticana» sind nun einmal grosse Würfe. Der zwiespältige Eindruck, der Erfolg des einen gehe auf Kosten des anderen, stellte sich dabei aber nicht ein. Anders jetzt im Opernhaus. Zu tun hat das freilich weder mit der Dramaturgie dieses Doppelabends noch mit Massenets Musik. Diese fügt sich mit ihren Zartheiten, die sie durchaus mit den sperrigeren Klängen eines rauen Zeitalters zu kontrastieren weiss, aber auch mit ihrer Melodiesprache, die sich von melancholischer Verhaltenheit bis zur Ekstase breit entfaltet, zum dichten Ganzen. Massenet zeigt darin noch einmal all sein spezifisches Können, auch wenn es nicht mehr so offen liegt wie im ariosen Zauber einer «Manon», eines «Werther».

Tenor-Kontraste
Nicht viel mehr als wohlwollender Applaus für «Thérèse», die Publikumsekstase für «Cavalleria»: Das Ungleichgewicht wiederholte sich im musikalischen Kernbereich, im sehr unterschiedlichen Applaus für die beiden Tenor-Protagonisten des Abends. Für Francisco Araiza ist die Partie des Armand eine Wiederbegegnung. Vor zwanzig Jahren hat er sie auf CD interpretiert, und sie war an diesem Abend auf eine unglückliche Art nicht nur von der Nostalgie des Adeligen geprägt, der seiner versunkenen Welt nachtrauert und verzweifelt um eine Gegenwart ringt, sondern auch von einem Sänger, der auf bessere Zeiten zurückblickte und die Partie jetzt alGratwanderung erlebte. Seine zähflüssig gewordene Stimme drohte immer wieder schon in Einsätzen der hohen Mittellage zu kippen, und die packenden Momente waren schwer erkämpft. Möglich, dass diese «Thérèse» sein Wunsch war, dem Werk hat er keinen Dienst getan.
Es hätte nicht krasser kommen können: für den Wagner-Tenor Peter Seiffert ist Turiddu die erklärte Wunschpartie (das verwundert nur, wer die ganze Tradition deutscher Italianità auf der Opernbühne nicht kennt), und es war ein glückliches Rollendebüt: eine Figur aus einem Guss in der Verbindung von impulsiver Kraft und schlanker – allerdings auch pressender – Stimme, von musikalischer Phrasierung und sprechendem Ausdruck, von sängerischer Statur und Bühnenpräsenz. Da war alles da, das Liebhabertemperament und der Machostolz, die sensible Emotionalität des Muttersohns und der Ausbruch ungestümer Vitalität, kurz: die Rolle.

Charakterbilder
Fliessender die Eindrücke im Weiteren. Massenets Oper lebt in differenzierter Charakterisierungskunst, in der Darstellung des Unterschwelligen – verbunden mit hohen vokalen Anforderungen. Liliana Nikiteanu betrat unter
diesen Vorzeichen ein neues Feld mit schönen stimmlichen Qualitäten und spontanem Ausdruck. Dass ihre Thérèse eher vordergründig wirkte, mag vor allem damit zu tun haben, dass sie zu sehr ins Publikum spielte – nicht erst in
der erwähnten finalen tour de force. Ein sehr überzeugendes Charakterbild des André bot Michael Volle mit einem weniger brillanten als -gefestigten Bariton, und unter den Nebenpartien fiel Boguszlaw Bidzinksi als Offizier mit profilierter Stimme auf. In der «Cavalleria» hatte Turiddu in Cheyne Davidsons Alfio einen vokal eher ungefährlichen Rivalen, in Luciana d’Intinos Santuzza aber eine dramatisch starke, wenn auch etwas monochrome Partnerin. Einzelne Passagen von grosser Fülle und Klangschönheit konnten allerdings alles an diesem Abend überstrahlen. Klara Takacs als Mutter und Katharina Peetz als verführerische Lola rundeten die Gruppe um Turiddu im grossen Ganzen überzeugend ab.
Mit den Chören rückt die «Cavalleria» ein Hauptinstrument ins Zentrum, das Massenet nur für ein paar beiläufige koloristische Effekte einsetzt. Der Opernchor, verstärkt durch den Zusatzchor, gab diese Tableaus generös, aber ohne aufzutrumpfen. Für eine glückliche Balance zwischen Bühne und Orchester überhaupt sorgte Stefan Ranzani, der zum ersten Mal eine Premiere im Opernhaus Zürich betreute. Und da bewährte sich noch einmal die kontrastreiche Verbindung Massenet und Mascagni: «Thérèse» wurde bei aller Stimmungskunst frei gehalten von zerfliessender Weichzeichnung und erhielt zupackende Akzente. In der «Cavalleria» kam dafür bei aller Blockhaftigkeit der Musik eine Lockerheit ins Spiel, die in der eben doch differenzierten Partitur alles befreite und aufschäumen liess – ohne Schaden für die stringente Dramatik, die mit zügigen Tempi packend vorangetrieben wurde. Und ja, das «Intermezzo»: Inbrünstig, aber schlicht und ohne Drücke klang es ganz unverbraucht und bewegend.



18. 3. 2002

Zwei Werke um Ehre, Liebe, Eifersucht und Tod

Das Opernhaus Zürich koppelt Mascagnis Verismo-Schocker mit einem Werk des Fin de Siècle: eine problematische Verbindung.

Sie gehören zusammen beinahe wie siamesische Zwillinge, die beiden Verismo-Paradewerke «Pagliacci» und «Cavalleria rusticana». Das Zürcher Opernhaus paarte jedoch seinerzeit Leoncavallos blutige Tragödie aus dem Zirkusmilieu mit Puccinis Erstlingsoper «Le Villi», und Mascagnis Melodrama um Ehre, Liebe und Eifersucht in einem sizilianischen Bauerndorf jetzt mit Jules Massenets Drame musical «Thérèse». Das hat den Vorteil, dass ein selten aufgeführtes Werk zu sehen und zu hören ist, das in der Schweiz bisher erst zu hören war (in einer konzertanten, auch auf Platten festgehaltenen Aufführung unter Gerd Albrecht). Operndirektor Pereira begründete die Entkoppelung der traditionellen Paarung damit, dass der tiefe Eindruck der meist zuerst gespielten «Cavalleria» im Verlaufe des Abends durch das nicht minder dramatische Konkurrenzwerk Leoncavallos an Gewicht verliere. Und jetzt? Jetzt gewann die «Cavalleria», nach «Thérèse» gespielt, derart an Furore, dass dafür Massenets rund zwanzig Jahre später entstandenes Spätwerk vollends verblasste. Das hat nicht nur mit den Werken als solchen, sondern auch mit der szenischen Zubereitung und der musikalischen Realisierung zu tun.Vielleicht wäre es besser gewesen, ein anderes Massenet-Werk, «La Navarraise», Mascagnis grossem Wurf an die Seite zu stellen - als französisches Pendant zum Verismo sozusagen. Denn «Thérèse» stellt nicht unbedingt den
intendierten Kontrast zum Mascagni-Einakter dar, ist nicht unbeeinflusst von den Strömungen des Realismus; die Schlussszene mit der Besteigung des Schafotts, der kriegerische, revolutionäre Hintergrund erinnern an «Andrea Chénier» oder «Tosca». Daneben freilich gibt es dieses typisch französische Parlando mit ariosen und liedhaften Ausweitungen, doch da kopiert Massenet oft sich selber, greift auf frühere Werke wie «Werther» zurück. Die Inspiration fliesst nicht mehr so reich, ist von einer dekadenten Fin-de-Siècle-Stimmung geprägt.

In Schönheit gestorben
Während dem italienischen Dirigenten Stefano Ranzani, der erstmals am Pult des Orchesters der Oper Zürich stand, die zupackenden Momente - die harten, scharfen Blechbläser-Akkorde gleich zu Beginn - eindrücklich gelangen, blieb im Lyrischen, Atmosphärischen vieles zu sehr im Ungefähren, im Vagen haften, tat er zu wenig, um die Instrumentation aufzulichten. Die Inszenierung blieb zudem den Nachweis schuldig, dass dieses Werk auf die Bühne gehört: Es erstarb sozusagen in den schönen Bildern, die William Orlandi für den ersten (eine malerische Versailles-Ansicht) und den zweiten Akt (ein lichtdurchfluteter, adeliger Innenraum) bereitgestellt hatte, und drohte in den noblen Gesten und langsamen, gemessenen Bewegungen der Protagonisten (Regie: Gilbert Deflo) zu erstarren.Rein gesanglich litt die Aufführung unter der ungenügenden Leistung von Franzisco Araiza (Armand), dessen Tenor glanzlos und unstabil geworden ist (Prompt musste der einstige Publikumsliebling einige Buhs einstecken). Ihr Französisch klang zwar verquollen, aber stimmlich betörte Liliana Nikiteanu in der Titelrolle mit den farblichen Reizen ihres Mezzosoprans und mit kultivierter Phrasierung. Idiomatisch noch am besten traf Michael Volles André den Massenet-Stil, auch wenn er als Figur reichlich blass bleiben muss.Nach der Pause dann die radikale Wende: Eine riesige Freitreppe mit Marmorstufen in gesprenkelten Farben füllte als einziges Bild den ganzen Bühnenraum aus. Ein Bühnenbild gleich einer Arena unter freiem Himmel, die mehr als das dörfliche Leben die antike Vergangenheit Siziliens in den Vordergrund rückte, das Drama in den Rahmen einer mit der Unerbittlichkeit und Folgerichtigkeit einer griechischen Tragödie abrollenden Handlung stellte. Und vollends verliehen das Orchester und die Sänger dem Werk diesen Charakter.

Faszinierendes stimmliches Duell
Ranzani liess nämlich die Melodien mit sinnlicher Glut bei schlanker Tongebung aufblühen, schloss die sich fast pausenlos folgenden dramatischen Einschübevzu einer einzigen Kette zusammen und setzte das Werk unter Hochspannung. Mit Luciana d'Intino als Santuzza und Peter Seiffert standen sich zwei Vollblutsänger gegenüber, die sich gegenseitig an vokaler Emphase überboten und sich ein faszinierendes stimmliches Duell lieferten. Dabei demonstrierte der Bayreuth-erprobte Wagner-Sänger Seiffert, der als Tannhäuser in Zürich so sehr imponiert hatte, wie schnörkellos, ganz ohne Schluchzer man die Partie des Turiddu singen und dabei doch brillieren und erschüttern kann. Cheyne Davidson fiel es nicht ganz leicht, angesichts dieser Temperamentsausbrüche mitzuhalten, erfordert doch die Rolle des für seine Ehre kämpfenden Alfio eher einen ungeschlachten Bariton mit Stentorkraft.

FRITZ SCHAUB


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