HERBERT BÜTTIKER
Wer kennt ihn nicht, den Jahrhunderthit «Cavalleria» oder mindestens das Intermezzo daraus: die sich aussingende Lebenslinie, in der der südliche Himmel Siziliens mitkomponiert scheint. Das Werk, das von der Uraufführung
(1890) an Furore gemacht und ein neues Kapitel der Operngeschichte aufgeschlagen hat, handelt von der Strenge dörflicher Sitte und Religion und dem aufwallenden Blut in den Adern der Menschen. «Viva il vino spumeggiante» singt Turiddu in die Ostergesänge hinein, und ebenso aufbrausend sprengt sie Santuzzas «A te la mala Pasqua», der Fluch gegen den Treulosen.
Steht das alles im deutlichsten Präsens, so ist Massenets Zeitform ganz die Vergangenheit. «Thérese», 1907 in Monte Carlo uraufgeführt, gehört, in der Nähe des «Don Quichotte», zu seinen Spätwerken. Alte Zeiten werden heraufbeschworen. Zwar spielt das Werk in den Revolutionsjahren 1792/93, aber zum Fixpunkt wird musikalisch ein Menuett, das noch weiter zurückführt. Auch führt die fatale Dreiecksbeziehung mehr in die Beschwörung des vergangenen Glücks als in den offenen Konflikt. Turiddus Rivale Alfio zögert keinen Moment und fordert das Duell. Der Girondist André Thorel, der seinem verbannten adeligen Jugendfreund Armand de Clerval das Gut in der Nähe von Versailles und das Leben rettet, ahnt nicht einmal etwas von der Beziehung seiner Frau zu diesem Mann. Statt im Eifersuchtsdrama löst sich der Konflikt im heroischen Bekenntnis zum altehrwürdigen Sittenkodex: André geht für seine Freundschaft auf die Guillotine, Thérèse folgt ihm aus Achtung und Pflichtgefühl. Ihre Liebe bleibt bei Armand, mit dem sie hätte fliehen können.
Vergangenheit und Gegenwart
Der Regisseur Gilbert Deflo und sein Ausstatter William Orlandi haben mit beeindruckender Stimmigkeit auf diese Kontraste reagiert. Für den herbstlichen Schlosspark in Clagny und die grossbürgerliche Stadtwohnung in
Paris der «Thérèse» haben sie zwei malerisch historisierende Bilder entworfen, das sizilianische Dorf dagegen ist, auf zwei geometrische Elemente reduziert die grosse Treppe der Piazza und eine Mauerfläche , pointillistisch ganz in die flimmernde Gegenwart von Licht und Farbe aufgelöst. In die Bilder der «Thérèse» fügen sich im genauen Zeitkolorit die Kostüme der Protagonisten und Soldatengruppen, während sich die Sizilianer vor dem abstrakten Hintergrund wie zeitlose Typen abheben und manchmal auch bloss gefällig, meist aber expressiv im aktuellen Bühnengeschehen
geradezu ausstellen. Fragwürdig zeigt sich Deflos Neigung zu purer Theatralik in der Inszenierung des «Thérèse»-Schlusses: Ein Gang an die Rampe, ein abrupter perfekt bewerkstelligter Szenenwechsel, mit dem Thérèse plötzlich vor der Guillotine steht, treibt ihre Exaltation in eine Effekthaftigkeit, die einer «Tosca» oder einem «Chénier» vermutlich gerechter würde als dem intimen Verismo Massenets.
Die über Jahrzehnte scheinbar bezwingende Verknüpfung der «Cavalleria rusticana» mit Leoncavallos «I Pagliacci» ist in jüngerer Zeit zu Gunsten vielfältiger Experimente aufgelöst worden. Das Opernhaus selber hat vor ein paar Jahren «I Pagliacci» erfolgreich mit einem frühen Werk Puccinis («Le Villi») kombiniert, St.Gallen ebenfalls überzeugend die «Cavalleria» mit de Fallas «La vida breve». In beiden Fällen lag das Hauptgewicht selbstverständlich bei dem jeweils bekannteren Stück einerseits gerade weil es bekannter ist, andererseits weil es dies natürlich nicht ohne Grund ist: «I Pagliacci» und «Cavalleria rusticana» sind nun einmal grosse Würfe. Der zwiespältige Eindruck, der Erfolg des einen gehe auf Kosten des anderen, stellte sich dabei aber nicht ein. Anders jetzt im Opernhaus. Zu tun hat das freilich weder mit der Dramaturgie dieses Doppelabends noch mit Massenets Musik. Diese fügt sich mit ihren Zartheiten, die sie durchaus mit den sperrigeren Klängen eines rauen Zeitalters zu kontrastieren weiss, aber auch mit ihrer Melodiesprache, die sich von melancholischer Verhaltenheit bis zur Ekstase breit entfaltet, zum dichten Ganzen. Massenet zeigt darin noch einmal all sein spezifisches Können, auch wenn es nicht mehr so offen liegt wie im ariosen Zauber einer «Manon», eines «Werther».
Tenor-Kontraste
Nicht viel mehr als wohlwollender Applaus für «Thérèse», die Publikumsekstase für «Cavalleria»: Das Ungleichgewicht wiederholte sich im musikalischen Kernbereich, im sehr unterschiedlichen Applaus für die beiden Tenor-Protagonisten des Abends. Für Francisco Araiza ist die Partie des Armand eine Wiederbegegnung. Vor zwanzig Jahren hat er sie auf CD interpretiert, und sie war an diesem Abend auf eine unglückliche Art nicht nur von der Nostalgie des Adeligen geprägt, der seiner versunkenen Welt nachtrauert und verzweifelt um eine Gegenwart ringt, sondern auch von einem Sänger, der auf bessere Zeiten zurückblickte und die Partie jetzt alGratwanderung erlebte. Seine zähflüssig gewordene Stimme drohte immer wieder schon in Einsätzen der hohen Mittellage zu kippen, und die packenden Momente waren schwer erkämpft. Möglich, dass diese «Thérèse» sein Wunsch war, dem Werk hat er keinen Dienst getan.
Es hätte nicht krasser kommen können: für den Wagner-Tenor Peter Seiffert ist Turiddu die erklärte Wunschpartie (das verwundert nur, wer die ganze Tradition deutscher Italianità auf der Opernbühne nicht kennt), und es war ein glückliches Rollendebüt: eine Figur aus einem Guss in der Verbindung von impulsiver Kraft und schlanker allerdings auch pressender Stimme, von musikalischer Phrasierung und sprechendem Ausdruck, von sängerischer Statur und Bühnenpräsenz. Da war alles da, das Liebhabertemperament und der Machostolz, die sensible Emotionalität des Muttersohns und der Ausbruch ungestümer Vitalität, kurz: die Rolle.
Charakterbilder
Fliessender die Eindrücke im Weiteren. Massenets Oper lebt in differenzierter Charakterisierungskunst, in der Darstellung des Unterschwelligen verbunden mit hohen vokalen Anforderungen. Liliana Nikiteanu betrat unter
diesen Vorzeichen ein neues Feld mit schönen stimmlichen Qualitäten und spontanem Ausdruck. Dass ihre Thérèse eher vordergründig wirkte, mag vor allem damit zu tun haben, dass sie zu sehr ins Publikum spielte nicht erst in
der erwähnten finalen tour de force. Ein sehr überzeugendes Charakterbild des André bot Michael Volle mit einem weniger brillanten als -gefestigten Bariton, und unter den Nebenpartien fiel Boguszlaw Bidzinksi als Offizier mit profilierter Stimme auf. In der «Cavalleria» hatte Turiddu in Cheyne Davidsons Alfio einen vokal eher ungefährlichen Rivalen, in Luciana d’Intinos Santuzza aber eine dramatisch starke, wenn auch etwas monochrome Partnerin. Einzelne Passagen von grosser Fülle und Klangschönheit konnten allerdings alles an diesem Abend überstrahlen. Klara Takacs als Mutter und Katharina Peetz als verführerische Lola rundeten die Gruppe um Turiddu im grossen Ganzen überzeugend ab.
Mit den Chören rückt die «Cavalleria» ein Hauptinstrument ins Zentrum, das Massenet nur für ein paar beiläufige koloristische Effekte einsetzt. Der Opernchor, verstärkt durch den Zusatzchor, gab diese Tableaus generös, aber ohne aufzutrumpfen. Für eine glückliche Balance zwischen Bühne und Orchester überhaupt sorgte Stefan Ranzani, der zum ersten Mal eine Premiere im Opernhaus Zürich betreute. Und da bewährte sich noch einmal die kontrastreiche Verbindung Massenet und Mascagni: «Thérèse» wurde bei aller Stimmungskunst frei gehalten von zerfliessender Weichzeichnung und erhielt zupackende Akzente. In der «Cavalleria» kam dafür bei aller Blockhaftigkeit der Musik eine Lockerheit ins Spiel, die in der eben doch differenzierten Partitur alles befreite und aufschäumen liess ohne Schaden für die stringente Dramatik, die mit zügigen Tempi packend vorangetrieben wurde. Und ja, das «Intermezzo»: Inbrünstig, aber schlicht und ohne Drücke klang es ganz unverbraucht und bewegend.