Presse-Spiegel
Opernhaus Zürich
OPERNFÜHRER
SYNOPSIS
LIBRETTO
HIGHLIGHTS
Georg Friedrich Händel: Orlando
15. Januar 2006 (Première)
   Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühnenbild
Kostüme


Orlando
Angelica
Medoro
Dorinda
Zoroastro
William W. Christie
Jens-Daniel Herzog
Mathis Neidhardt
Mathis Neidhardt

Marijana Mijanovic
Martina Janková
Katharina Peetz
Christina Clark
Günther Groissböck

Rezensionen
    Persönlicher Eindruck
einer Premièren-Besucherin
Auf der Suche nach der Liebesformel
Sie singen auch
Der Liebeskranke im Kurhotel
Keiner hilft dem Macho-Mann vom Sockel herunter
Die Liebe - nichts für Helden
Im Sanatorium der Koloratursänger
Mit Liebe, Verstand und sehr viel Humor
Barocke Liebe
bis zum Wahnsinn
Händel in der Psychiatrischen
       

Vox spectatricis

16. 01. 2006 / Chantal Steiner

Ein Held steigt vom Sockel

Nach der Durchsicht des Librettos war ich so schlau wie zuvor: Eine reichlich verworrene Geschichte wollte uns das Opernhaus diesmal vorsetzen. Ob die Umsetzung gelingen würde?

In groben Zügen lässt sich die Handlung wie folgt zusammenfassen: Orlando (der fränkische Ritter Roland aus der Sage) verliert der Liebe wegen den Verstand, denn seine ihm versprochene Geliebte (Angelica) liebt einen anderen (Medoro). Dieser wiederum schäkert ungehemmt mit der Schäferin Dorinda, obwohl er Angelica liebt. Ein „Zauberer“ (Zoroastro = Zarathustra = Sarastro (?)) will Orlando kurieren, damit er wieder der allseits geschätzte Kriegsheld wird, und schafft dies auch. Am Ende sind – wie es die Opera seria verlangt – alle „glücklich“.  Diese Begebenheit wird von G.F. Händel in fast 3 Stunden magistral vertont. Ob man sich nicht die eine oder andere Wiederholung hätte ersparen können, bleibe dahin gestellt. Die Musik Händels weist aber zweifellos wunderschöne Passagen auf, lässt die Protagonisten ihre Koloraturfähigkeiten ausschöpfen und vermag zu packen. Sie lässt bereits Mozart erahnen, hat aber auch für Barock eher ungewöhnliche Töne (z.B. in Orlandos „Wahnsinnsszene“). Das Orchester „La Scintilla“ unter der Leitung von William Christie kann diese Musik bestens umsetzen. Mir persönlich fehlt bei Christie immer etwas das „feu sacré“, das z.B. Minkowski zu vermitteln vermag. Christies Deutungen sind mir immer etwas zu gepflegt, zu „geglättet“, aber ansonsten war es eine hervorragende Wiedergabe.

Auch von den Sängerinnen und dem einzigen Sänger her gesehen war der gestrige Abend ein voller Erfolg. Das Ensemble war wunderbar homogen. Marijana Mijanovic begeisterte mich wiederum mit ihrer unglaublichen Tiefe, mit dem satten, warmen Timbre ihrer Stimme (auch wenn sie – verglichen mit ihrer Leistung im „Trionfo“ – etwas an Volumen und an Strahlkraft in der Höhe eingebüsst zu haben scheint). Ausserdem fasziniert mich ihre Bühnenpräsenz. Ihre androgyne Art lässt bisweilen vergessen, dass es sich um eine Frau handelt, die dort auf der Bühne agiert. Schlichtweg umwerfend war die Leistung von Martina Janková in ihrer ersten Begegnung mit dem Barockfach. Sowohl darstellerisch wie auch stimmlich schöpfte sie alles aus, um dem Charakter der Angelica gerecht zu werden. Glockenreine Koloraturketten reihte sie aneinander, auch die dramatischen Ausbrüche vermochte sie packend zu gestalten. Eine tolle Überraschung war auch der Zoroastro von Günther Groissböck, auch er zum ersten Mal im Barockfach zu hören . Virtuos bewältigte er die hohen technischen Anforderungen. Seinem warmen, profunden Bass konnte er eine unglaubliche Leichtigkeit geben, die ich bei einem Sänger, der auch im Verdi- und Wagnerfach tätig ist, nicht erwartet hatte. Christina Clark, die ziemlich kurzfristig für die erkrankte Eva Liebau einspringen musste, war die einzige im vorzüglichen Ensemble, die das Werk bereits gesungen hatte. Sie verfügt über eine eher kleine Stimme, die jedoch perfekt zu dem kleinen Persönchen und der Darstellung der Clorinda passt. Sie zeichnet sich durch Liebreiz und Natürlichkeit aus. Die letzte im Bunde, Katharina Peetz in der Hosenrolle des Medoro, hatte es etwas schwer, gegen die anderen Protagonisten zu bestehen, obwohl sie sich der Aufgabe bestens entledigte. Sie besitzt einen warmen, dunklen Mezzo, der aber bisweilen etwas eindimensional ist.

Jens-Daniel Herzog versetzte die wirre Handlung in die 1920er Jahre und liess sich dabei offensichtlich von Manns „Zauberberg“ inspirieren. Dies ist nicht immer unproblematisch, wenn der Text eingeblendet wird und z.B. kein Schwert zur Hand ist (sondern ein Beil) oder weit und breit keine Nachtigall, kein Lorbeerbaum, auch keine Blumen und die Schäferin eine Krankenschwester ist. Dies stört aber nicht weiter. Die Inszenierung hatte für mich nur zwei Schwächen: Sie war zu links- oder rechtslastig, so dass viele Zuschauer von einem Teil der Bühne nichts sahen. Zweitens störte mich, dass Jens-Daniel Herzog „Liebe“ mit „Sex“ gleichstellt. Körperliche Liebe gehört zweifellos zur Liebe, ist aber meines Erachtens in diesem Kontext nicht die Triebfeder.

Die Vorstellung beginnt mit einem auf dem Vorhang projizierten Einführungstext, den ich von meinem Platz leider nicht vollständig zu entziffern vermochte (und ich sitze noch relativ in der Mitte!).  Im Sanatorium erläutert „Dr.“ Zoroastro vor seinen Assistenzärzten und Schwestern (Genien), in welchen Gehirnhälften Orlandos sich Liebe, Angst, Ruhm und Verstand befinden (unter dem Titel „Orlando furioso“, welchen Orlando selbst später in „Orlando innamorato“ ändern wird). Formeln werden gebildet, die anschliessend einen anderen Sinn ergeben. Orlando wird mit einem „Burn-out-Syndrom“ ins Sanatorium eingeliefert und trifft dort auf die anderen Protagonisten. Ein geschicktes Hin- und Herschieben der Wände verändert die Aktionsplätze und versinnbildlicht auch die Seelenräume und klaustrophobischen Zustände optisch. Die Ausstattung von Mathis Neidhardt ist extrem ästhetisch, die Personenführung von Herzog hervorragend.  Die Inszenierung verfügt über Witz und Ironie und lässt die Oper im Fluge vergehen, was aber auch der Darstellungskunst aller Protagonisten zu verdanken ist. Viel geschieht ja nicht in diesem Stück. Verdankenswerterweise hat es Herzog unterlassen, diese „Leere“ mit billigem Aktionismus auszufüllen. Das, was auf der Bühne geschieht, ist stimmig und sinnvoll. Die „Leere“ lässt der Musik den nötigen Raum, um in sie einzutauchen.

Nach dem etwas abrupten „fine lieto“ steht Orlando plötzlich auf einem Statuen-Podest, dessen Inschrift „Orlando eroe“ lautet. Denn das Experiment des Doktors ist „geglückt“, Orlando ist der Welt wieder als Ruhm-„Maschine“ gegeben, er „funktioniert“ wieder, hat der Liebe für den Militärdienst entsagt. Alle legen Blumen am „Denkmal“ nieder und stimmen in das Finale ein. Doch ist es wirklich das Finale? Die Musik schweigt, Orlando steigt vom Podest herunter, setzt sich auf dessen Kante und schaut verstört in die Welt… (War seine Entscheidung richtig?) Das Publikum ist etwas verwirrt… kommt da noch etwas? –  Das Licht geht aus! Der Vorhang fällt!

Augenblicklich setzt frenetischer Applaus ein. Alle Protagonisten inkl. Inszenierungs­team werden mit Bravo-Rufen eingedeckt. Das Opernhaus kann wieder mit einer vollauf geglückten Premiere aufwarten!

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Aargauer Zeitung

17. 01 . 2006 / Christian Berzins

Auf der Suche nach der Liebesformel

Jens-Daniel Herzog inszeniert Georg Friedrich Händels «Orlando» raffiniert, William Christie fasziniert mit seinem Dirigat und präsentiert ein tolles Ensemble.

So cool und gleichzeitig so sanft kann Oper sein - Wahnsinn! Oh, Vorsicht bei Gebrauch dieses Wortes! Zu viele schlaue Gedanken sind darüber im Programmheft des Opernhauses Zürich zu lesen, zu viel wird in «Orlando» davon gesprochen. Georg Friedrich Händels 1733 komponierte Vertonung einer Geschichte aus Ariosts «Orlando furioso» stellt sich in eine bis in die Gegenwart reichende Rezeption des Stoffes.

Der Kriegsheld ist vom Liebeswahn gepackt und wird nach vielen Wirren von Zauberer Zoroastro auf die rechte Bahn gebracht - notabene auf die von den Göttern gewünschte Ruhmesbahn. Doch Zauberer, Schäferinnen und Götter aus Maschinen, sie wirken auf den heutigen Bühnen gar fern, und so greift denn Regisseur Jens-Daniel Herzog tief in die Trickkiste, weiss aber fast jede seiner Idee klug auszudeuten und seine Geschichte schnörkelfrei zu erzählen.

Aus der Schäferin macht Herzog standesgemäss eine Hilfspflegerin, aus dem Zauberer einen Gott in Weiss, einen Arzt. Und er verlegt das antike Geschehen in eine Klinik Anfang des 20. Jahrhunderts - das Streben nach Ruhm und Liebe bleibt sich naturgemäss gleich. Mathis Neidhardt hat für das Liebesentzugsexperiment eine raffinierte, todschicke Bühne gebaut: Bald schauen wir in grosse Schlafsäle, bald scheint die Klinik ein Labyrinth zu sein.

Draussen tobt der 1. Weltkrieg. In den Schützengräben wird Orlando gebraucht. Doch dann passiert es eben: Er verliebt sich, seine Gedanken sind wirr. Die Angebetete verliebt sich aber bald in einen anderen, worauf Orlando wütend, bald rasend, ja «wahnsinnig» wird: Der Arzt hat dafür auch prompt ein Gleichung, die nach wilden Wurzelziehungen und mathematischen Kürzungen vereinfacht lautet: «Orlando+Amor=Furor».

Und wahrlich verbreitet Orlando Schrecken und meint, das Liebespaar umgebracht zu haben. Erst als Zoroastro einen Mundschutz anzieht, sich das Skalpell reichen lässt und an Orlando Hand anlegt, kann er geheilt werden. Orlando darf nun wieder Held sein beziehungsweise Held spielen. Schmunzelnd stiehlt sich die Klinikbelegschaft während seiner Inthronisierung davon. Was bleibt dem ordengeschmückten Krieger anderes übrig, als nach den triumphalen Schlusstakten vom Sockel zu steigen? In der Denkerpose verharrt er, bis das Licht ausgeht - und ein grosser Opernabend vorbei ist.

Nach etwas mehr als drei Stunden jubelte das Publikum nicht nur oppositionslos dem Regisseur zu, sondern auch den Sängern. Angeführt wird das vor allem optisch hinreissend harmonierende Ensemble von Marijana Mijanovic (Orlando). Die singuläre Altistin verblüfft einmal mehr mit ihrem ureigenen dunklen Timbre, das jeden Ton zum Erlebnis machen würde, wäre ihre Intonation etwas präziser. Martina Janková (Angelica), Katharina Peetz (Medoro) und Christina Clark (Dorinda) schlagen sich tapfer durch die waghalsigen Arien, die zwei ersten Sängerinnen verstehen sich nicht nur auf ihre wohlgestaltete Ausformung der Phrasen, sondern sind bemüht, Farben und Emotionen in die Worte zu legen. Günther Groissböcks (Zoroastro) so wohlklingender wie wendiger Bass ergänzt diese Stimmen perfekt. Dirigent William Christie führt alles mit ungeheurem Feinsinn zusammen: Sein Dirigat sucht keine Extreme, gefällt sich vielmehr in wohlgeordnet ausgeleuchteter Orchesterfarben. Auf Zoroastros Wandtafel hiesse die Formel wohl: «Vernunft+ Liebe=Opernglück».

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Blick

17. 01. 2006 / Roger Cahn

Sie singen auch

Die barocke Oper über den rasenden Helden Roland verlegt der deutsche Regisseur Jens-Daniel Herzog in ein Irrenhaus. Seine Story zieht das Publikum in ihren Bann. Dass daneben auch gesungen wird, stört kaum. Premiere war am Sonntag.

Roland, der vielbesungene mittelalterliche Held, führt in Händels Oper einen inneren Kampf: Ruhm im Krieg oder Erfolg in der Liebe. Er entscheidet sich für seine geliebte Angelica, doch diese liegt bereits fest in den Armen seines Nebenbuhlers Medoro. Das treibt ihn zur Raserei, aus der er am Ende nur durch den Zauber des Magiers Zoroastro befreit werden kann.

Regisseur Jens-Daniel Herzog und sein Bühnenbildner Mathis Neidhardt verlegen die Szenerie in eine psychiatrische Klinik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Magier mutiert zum Chefarzt, Orlando zum irren Patienten. Und dieser wahnsinnige Held wird mit der Zeit so gefährlich, dass er mit den damaligen Mitteln der Psychiatrie nicht mehr behandelbar ist, mit Tränengas überwältigt und mit Morphium ruhig gelegt werden muss. Diese Geschichte wird hervorragend gespielt.

Bei so genau durchdachten und faszinierenden Ideen steht die Musik bald einmal auf verlorenem Posten. Da nützen auch das intensive und feinfühlige Dirigieren von William Christie sowie das differenzierte Spiel des barocken Orchestra La Scintilla der Oper Zürich wenig.

Selbst die hervorragend gesungenen Arien des Titelhelden durch die Altistin Marijana Mijanovic - diese Rolle wurde früher von berühmten Kastraten interpretiert - vermögen die Aufmerksamkeit der Zuhörer nicht auf die Musik zu lenken. Es ist ja einleuchtend, dass Irre in ihrem Wahn auch mal zu singen beginnen. Und daran, dass Frauen Männerrollen spielen, hat man sich auch schon längst gewöhnt.

Wenn die Regie so ganz auf den barocken Kosmos des Werks verzichtet, tut sich die Musik bei «Orlando» zusätzlich schwer und wirkt gelegentlich wie ein Fremdkörper. Georg Friedrich Händel fehlen hier im Unterschied zu anderen Opern weitgehend die zündenden Ideen. Die Musik plätschert so dahin, angenehm fürs Ohr, kaum störend fürs Auge.

Fazit: Einer der seltenen Fälle, wo die Story des Regisseurs spannender ist als die Oper selbst.

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Der Landbote

17. 01. 2006 / Herbert Büttiker

Der Liebeskranke im Kurhotel

Unterhaltsam und klug: Was das heutige Theater aus der Barockoper macht, überrascht immer wieder. So auch «Orlando» im Opernhaus.

Orlando ist wohl der erste Antiheld der Operngeschichte. Der Ritter ist kampfunfähig aus unglücklicher Liebe. Diese treibt ihn in den Wahnsinn: «Orlando furioso » heisst auch Ariosts Versepos, das zahlreiche Librettisten und Komponisten angeregt hat. Händel hat drei Werke auf der Grundlage der phantastisch ausufernden Verserzählung komponiert, nach «Orlando» (1732) noch «Alcina» und «Ariodante».

Auf dem Höhepunkt des Wahns schleudert der rasende Roland die untreue Geliebte Angelica in einen Abgrund, bevor er vor Erschöpfung einschläft. Aber der Magier Zoroastro hat die Höhle sogleich in einen prächtigen Marstempel verwandelt, in welchem Angelica, von Genien bewacht, unversehrt sitzt. Die Figur des Zauberers ist mit Händel neu in die Handlung gekommen: Er wacht über das Geschehen und heilt den Ritter am Ende. Die Heilkunst ist jedoch bei aller Magie die in der Barockoper übliche: Das Liebesdurcheinander tobt sich bis zur Erschöpfung aus, dann folgt die Besinnung von selbst. Orlando gibt der Verbindung Angelicas mit Medoro das Placet und besinnt sich auf seine Aufgabe, für Ruhmestaten auf dem Schlachtfeld zu sorgen.

Mit der Magie ist der Opernmoral ebenso Genüge getan wie der Schaulust des Publikums, und zu beidem haben Regisseur und Ausstatter der Zürcher Inszenierung, Jens-Daniel Herzog und Mathis Neidhardt, auf spannende Weise Eigenes zu sagen. Den wiederhergestellten Generalissimo stellen sie auf einen Sockel, wo er, nun plötzlich allein, ziemlich ratlos aussieht: ein Happy End mit Fragezeichen. Der Schauplatz zeigt statt der konventionellen Szenerien der Barockoper zwischen Hain und Palast ein Hotel oder Sanatorium in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Eine ingeniöse Bühne schafft mit beweglichen Wänden, atmosphärisch dicht und witzig im Detail, die unterschiedlichsten Raumsituationen. Überraschend zwanglos und stimmig gelingt da auch die Verpflanzung der mittelalterlichen Figuren ins Zauberberg-Milieu um 1900.

Leben im Hotel
Die neuen Rollenbilder scheinen den Darstellern geradezu auf den Leib geschrieben, und hervorragend integrieren alle ins Spiel ihre virtuose und ausgedehnte musikalische Aufgabe: Zoroastro (Günther Groissböck) ist nun der dozierende und experimentierende Halbgott in Weiss, dank griffigem und beweglichem Bass nicht ohne Frankensteinischen Einschlag. Die einfache Hirtin Dorinda (Christina Clark) ist zur Krankenschwester geworden, die sich immer mal wieder in einen der noblen Patienten verliebt, aber auch mit den damit verbundenen Frustrationen zurechtkommt: kleines Frauenschicksal, berührend in der Anmut und Leichtigkeit eines mühelosen Soprans.

Als Kurgast hält sich Angelica, vormals Königin von Cathay, im Sanatorium auf. Martina Jankova brilliert im mondänen Auftritt und mit entsprechender Verve der Koloraturen. «Wer mein Herz besitzt, kann sich ohne Hochmut König nennen», findet sie, lässt aber auch Hysterie ahnen. Vor allem paart sie den kecken Ton mit köstlicher Komödiantik, die überhaupt in dieser «Seria» nicht zu kurz kommt. Ihr Medoro, eigentlich als geheilt entlassen, findet an der Sanatoriumswelt Gefallen, wo alle Frauen um ihn buhlen. Passend für den Galan Katharina Peetz' agiler, mit fülligem Legato tadellos geführter, schöner Mezzosopran.

Orlando kommt direkt vom Schlachtfeld – einer, der nicht mehr kann. «Effeminati sentimenti» diagnostiziert der Arzt, was, nebenbei, dem Kastraten Senesini, der sich nach «Orlando» von Händel trennte, in den falschen Hals geraten sein dürfte. Für Marijana Mijanovic, eine Altstimme mit männlichem Einschlag, ist Orlando eine ideale Rolle, die sie zwischen Burn-out-Melancholie und Raserei mit breiter Ausdruckspalette gestaltet. Dass ihr Gesang im rein instrumentalen Sinne allerdings nicht nur beglückt, ist nicht wegzustecken, gedeckter, manchmal fahler Klang, flackernde, gebrochene Linie. Aber mit starker Bühnenpräsenz macht sie die musikalische Kühnheit deutlich, mit der Händel die Wahnsinnsszenen des Orlando komponiert hat.

Der sechste Protagonist
Das moderne Interesse an der Opera seria entzündet sich ja gerade dort, wo sie von ihrem Schematismus abweicht, und diesbezüglich hat Händel, hat vor allem «Orlando» vieles zu bieten, Accompagnati, orchestrale Stücke, Ariosi, Duett, Terzett und eben Szenen, die alle Konventionen sprengen: für William Christie und das Orchestra «La Scintilla» der Zürcher Oper also ein reicher Fundus für vifes und präzises Musizieren. Ein wenig droht da und dort Stagnation in der Reihe der Larghetto-Arien im zweiten Akt, aber immer ist da wieder die Initiative des Dirigenten, der mit Akzenten, dynamischem Wechsel und prägnanter musikalischer Gestik überrascht. Händels Orchester, gerühmt als der sechste Protagonist, ist da oft eindrücklich der erste.

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Neue Luzerner Zeitung

17. 01. 2006 / Urs Mattenberger

Keiner hilft dem Macho-Mann vom Sockel herunter

Das Erstaunliche an der Produktion sind dabei die ambivalenten Männerbilder, die schon die Musik Händels vermittelt.

Neue Männer braucht das Land. Aber wie waren die alten wirklich? Die Zürcher Oper gibt mit Händel eine überraschende Antwort.

Alle paar Jahre wird ein neuer Mann ausgerufen, weil angeblich Männer und Frauen sich über die Identität von Männern nicht mehr im Klaren sind. Im Zeitalter der Emanzipation geht es eben nicht mehr um die simple Frage von Macho oder Softie, wie letztes Jahr eine Umfrage dieser Zeitung ergab.

Einerseits ist für Frauen heute klar, dass Männer «sich öffnen und sanft und zärtlich sein» müssen (die Unternehmensberaterin Sonja Buholzer). Und doch lieben es Frauen immer noch, wenn Männer «Power zeigen», wie es Susanna Fassbind von der Frauenzentrale Zug formulierte: «Ich mag es, wenn ein Mann Durchsetzungsvermögen hat und mir als Partnerin auch mal den Tarif durchgibt.»

Dass Männer immer schon beiden Ansprüchen gerecht werden mussten, lässt jetzt am Opernhaus Zürich ausgerechnet eine Barock-Oper erahnen (Premiere war am Sonntag). Denn Georg Friedrich Händels «Orlando» untersucht das Verhalten von Frauen und Männern am Problemfall, wo die Liebe sich paarweise und übers Kreuz in die Quere kommt. Da wird die Liebe von Angelica und Medoro auf die Probe gestellt, weil beiden von anderen der Hof gemacht wird: Dorinda versucht Medoro zu verführen, Orlando droht (nach Ariosts «Orlando furioso») aus rasender Liebe zu Angelica Amok zu laufen. Die Fäden hin zum Happy End, wo die Liebe aufgeklärt zu Vernunft kommt, zieht der Magier Zoroastro.

Aktueller Stoff
Der Schauspiel-Regisseur Jens-Daniel Herzog betont die Aktualität im Stoff, indem er das Geschehen weg vom Ritterambiente der Vorlage in ein Sanatorium verlegt, das auch in der Ausstattung von Mathis Neidhardt Thomas Manns «Zauberberg» heraufbeschwört. Der mondäne Klinikraum wird durch fahrbare Wand- und Gang-Elemente immer wieder neu verwinkelt und geöffnet: ein grossartiges Raumgefüge, das das Labyrinthische der Liebe wie die strenge Ordnung wissenschaftlicher Vernunft zum Ausdruck bringt, die hier Zoroastro als Sanatoriumsarzt repräsentiert.

Ambivalente Männerbilder
Das Erstaunliche an der Produktion sind dabei die ambivalenten Männerbilder, die schon die Musik Händels vermittelt und die Herzogs Figurenregie geschickt akzentuiert. Demnach haben hier von Anfang an die Frauen die Fäden in der Hand: Angelika will sich als kalkulierende Geliebte Medoro bewahren, ohne es mit Orlando zu verderben. Dorinda bringt mit handfesten Verführungsversuchen Medoros Männlichkeit ins Wanken.

Medoro selbst ist hier darin schon ein modern anmutender Mann, als ihn Selbstzweifel und Unentschlossenheit zu einer Art willenlosem Softie machen. Dass die Kastratenrolle mit einer Frau besetzt ist, unterstreicht noch, welch feminine Musik Händel für diese Männerrolle geschrieben hat.

Noch erstaunlicher ist das im Fall Orlandos (ebenfalls eine Hosenrolle). Als Kriegerheld in der Vorlage ein Ritter, in Zürich ein hoch dekorierter Soldat mit Hitlerfrisur und Napoleon-Attributen ? repräsentiert er wie aus dem Bilderbuch den Mann mit Tatkraft und Durchsetzungsvermögen. Aber dieses Männerbild wird systematisch demontiert. Musikalisch in der Wahnsinnszene, wo die Raserei sich in tatenloser Selbstzerfleischung zerläuft. Szenisch am Schluss, wo Orlando, vernünftig geworden und der Liebe zu Gunsten des Ruhms entsagend, endlich als Held auf den Sockel gehievt wird. Hier, wo ein traditionelles Männerbild plakativ restauriert wird, kippt die Inszenierung ins Ironische: Orlando muss aus der Einsamkeit des Sockels herab zusehen, wie sich die Liebenden zum Schäferstündchen zurückziehen. Und keiner hilft ihm, wieder vom Sockel herunterzusteigen.

Das ist ein spannender Ansatz. In der szenischen Umsetzung allerdings bleibt Herzog immer wieder auf halbem Weg stehen, weil der Klinik-Realismus mitsamt Macho-Allüren bei den Bajonett-Stössen gegen einen Sandsack nicht mit der gebotenen Drastik umgesetzt wird.

Orchestrale Magie
Entschiedener ist der Abend in musikalischer Hinsicht, wobei das Orchester La Scintilla unter William Christie die Palette von kammermusikalischer Magie bis zu orchestralen Tableaus genüsslich und entspannt ausreizt. Unter den Sängerdarstellern ragt Martina Jankovas wandlungsfähige Angelica mit sinnlich aufblühendem Sopran heraus, während Marijana Mijanovic den Orlando mit gestochen scharfen Koloraturen und überraschend männlichem Timbre als ambivalent schillerndes Männerporträt gestaltet. Christina Clark als sich emanzipierende Dorinda, Katharina Peetz als gegängelter Medoro und Günther Groissböck als kaltherziger Klinikboss runden das Ensemble unspektakulär, aber stimmig ab.

Jeder Abend ist anders
Aufhorchen liess am Premierenabend musikalisch die Wahnsinnszene, wo William Christie mit schrägen Tönen, verschwimmenden Glissando-Figuren und einer geräuschhaft aufgerauten Lautmusik auch musikalisch an die Grenzen ging. «Christie legt nicht genau fest, was wir wie spielen», sagt dazu der mitwirkende Luzerner Kontrabassist Dieter Lange: «Deshalb ist jeder Abend anders. Gut möglich, dass wir an einem anderen Abend auch angriffiger spielen werden.»

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Neue Zürcher Zeitung

17. 01. 2006 / Peter Hagmann

Die Liebe - nichts für Helden

«Orlando» von Georg Friedrich Händel im Opernhaus Zürich

Ein Berg wird gezeigt, und zuoberst thront Atlas mit dem Himmel auf den Schultern. Wenig später fährt der Berg zur Seite, tritt ein Palast an seine Stelle. Der wiederum wird von einer lieblichen Landschaft mit Schäferhütten abgelöst, und wenn es nottut, fährt ein Brunnen aus dem Boden heraus, hinter dem man sich verstecken kann. Ein Wald sodann, ein Gestade am Meer, eine Grotte, die explodiert, ein Palmenhain, der sich im Nu in eine wüste Höhle verwandelt. Das klingt effektvoll und war es auch, 1733 im King's Theatre am Londoner Haymarket, wo Georg Friedrich Händel am 27. Januar (mit vier Tagen Verspätung gegenüber der Ankündigung) seinen «Orlando» nach Ariost zur Uraufführung brachte. Aber heute? Wie soll eine solche Bilderfolge heute auf die Bühne gebracht werden?

Im Sanatorium
Jens-Daniel Herzog und sein Ausstatter Mathis Neidhardt entschieden sich, die Geschichte von einem Helden, der sich in der Liebe versucht, aber nur den Wahnsinn findet und sich deshalb der Heilkunst eines Magiers überlässt, etwas näher an uns heranzurücken, aber doch nicht zu nah. Weshalb «Orlando» am Opernhaus Zürich in ein Sanatorium des frühen 20. Jahrhunderts verlegt ist - in einen «Zauberberg», wo sich unablässig Wände verschieben, wo sich Räume bilden und auflösen, ein Bett aus der Wand herauskippt und bei Bedarf auch eine furchterregende Operationslampe herunterfährt. Zoroastro, der von Händel in den Text Ariosts hineingeschmuggelte Zauberer, ist ein Magier in Weiss: ein Chefarzt mit kahlem Schädel und herrischer Gestik. In seinem unerschütterlichen Glauben an die Vernunft führt er am Fall seines Patienten Orlando ein Experiment in Sachen Liebe und Eifersucht durch. Ganz von fern lässt tatsächlich «Così fan tutte» grüssen.

Die szenische Disposition mag nicht ganz neu sein - Spitalbetten treten in der Oper immer wieder auf -, aber sie funktioniert vorzüglich, weil sie so konsequent und so genau realisiert wird. Lautlos spielen sich die raschen Verwandlungen ab. Und präzis sind die Figuren ausgezeichnet - bis hin zu dem stummen Gefolge um den Primar. Wenn dieser am Ende hinter einem grünen Leintuch verschwindet, um zur entscheidenden Operation anzusetzen, lässt die Gruppe dieser Statisten mit ganz kleinen Gesten erleben, was in der klassischen Dramaturgie die «Mauerschau» genannt wird. Der Chef selbst wiederum: ein schauerlich machtbewusster Geselle. Günther Groissböck greift nicht nur immer wieder respektheischend nach seiner Taschenuhr, er arbeitet auch mit prächtiger Stimme: einem Bass von bronzener Strahlkraft und zugleich von jener geradezu instrumentalen Beweglichkeit, die in dieser Partie gefordert ist. Ein Glücksfall.

Einer von zweien, denn der Patient begegnet dem unheimlichen Seelendoktor absolut auf Augenhöhe. Die Rolle des Orlando, von Händel für den berühmten Kastraten Senesino geschrieben, von diesem ihrer ungewöhnlichen Anlage wegen aber wenig geschätzt, spart nicht mit kniffligen Aufgaben. Enorm schon die Anforderungen an Umfang und Agilität der Stimme, von unglaublicher Weite aber auch das Ausdrucksspektrum - die Altistin Marijana Mijanovi bewältigt das alles in bewundernswerter Weise. Sie verfügt vielleicht nicht über die Lautstärke, die ein Countertenor heute zu erreichen vermag, aber ihre vokale Kultur lässt in nichts zu wünschen übrig. Wenn sich Orlando am Ende des ersten Akts vom Kriegshandwerk verabschiedet, um sich fortan der Liebe hinzugeben, erzeugt sie durch sorgsame Ausgestaltung des Rhythmischen mitreissenden Schwung, der in eine überaus virtuose Kadenz mündet. Und die Wahnsinnsarie zum Schluss des zweiten Akts, szenisch etwas überalimentiert, wird zum Höhepunkt des Abends.

Darum herum drei Figuren, welche die Fallstricke der Liebe ausbreiten und das mit viel Sinn für Situationskomik tun. Ja, «Orlando» ist zwar eine Opera seria, aber nicht nur findet das Stück jenseits aller Gattungsnorm zu einer psychologischen Vertiefung, die staunen macht, es bindet auch das Erheiternde mit bemerkenswertem Geschick ein - und der Regisseur hat es mit dem richtigen Mass herausgearbeitet. Dorinda liebt Medoro, Medoro dagegen ist Angelica zugetan, wo doch Angelica von Orlando begehrt wird. Da ist guter Rat teuer, braucht es schon einen Zauberer. Unter dem Einfluss Zoroastros bietet Orlando Hand zum lieto fine, aber auch Dorinda tut es: Christina Clark, die ohne Angabe von Gründen die angekündigte Eva Liebau ersetzt, wirkt herrlich quirlig, vermag mit ihrem sehr leichten Sopran dem inneren Wandel der Figur aber nicht voll nachzugehen. Die Partie des Medoro ist bei Katharina Peetz, jene der Angelica bei Martina Janková - trotz dem Vibrato, das sich bei dieser Sängerin immer wieder störend in den Vordergrund drängt - in besten Händen.

Instrumental ausgefeilt
Die Spannung an diesem Abend ergibt sich auch daraus, dass das Gestische das Musikalische frappierend aufnimmt. Und dass das Musikalische wiederum äusserst prononciert dargeboten wird, woran das auf alten Instrumenten spielende Orchester «La Scintilla» der Oper Zürich und der Dirigent William Christie entscheidenden Anteil haben. Schon in der Ouverture mit ihrer weichen Tongebung und dem ziehenden Klang wird deutlich, welche Opulenz und Sinnlichkeit Händels Musik verbreiten kann. Über weite Strecken herrscht der Streicherklang vor; da aber sehr lebendig artikuliert und im Continuo, gerade was die Basslinie betrifft, reichhaltig differenziert wird, kommt es zu keinem einzigen Durchhänger. Effektvoll zudem der sparsame Einsatz der je zwei Blockflöten, Oboen und Hörner sowie, zum Beispiel gegen Ende des dritten Akts, der beiden Viole d'Amore. Wie der Streicherklang dominiert aber auch - und das, obwohl Händel hier nach vielen Seiten hin neue Wege sucht - die Form der Da-capo-Arie. Wenn man in dieser Produktion verfolgt, wie phantasievoll und zugleich selbstverständlich die Sänger in den wiederholten Teilen Verzierungen einfügen, kann man sich wieder einmal bewusst machen, wie viele Türen die Praxis der historischen Aufführung in den letzten Jahrzehnten geöffnet hat.

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St. Galler Tagblatt

17. 01. 2005 / Verena Naegele

Im Sanatorium der Koloratursänger

Psychologie statt Zauber: Händels «Orlando» am Opernhaus Zürich

Mit William Christie am Pult begeistert selbst ein Liebes-wahnsinniger das Publikum. «Orlando» in Zürich verzaubert mit Musik, was die Regie von Jens-Daniel Herzog entzaubert.

Die Aufführung von Händel-Opern ist in Zürich in kurzer Zeit zur allseits geschätzten Tradition geworden. Mit «Orlando» wird nun die Serie der Zauberopern durch den Händel-Könner William Christie am Pult der Barockformation «La Scintilla» fortgesetzt. Es war ein Fest für die Ohren, aber nicht für die Augen, denn Regisseur Jens-Daniel Herzog hat das barocke Maschinen-Bombasten-Stück gründlich entzaubert. Von Natur wird nur noch gesungen, jede metaphorisch barocke Allegorie vermieden.

Kahl und leicht abgewetzt sind die unzähligen, verschiebbaren Wände, die ein Sanatorium suggerieren sollen, das etwelche Patina angesetzt hat. Gleichwohl will sich keine Zauberberg-Atmosphäre einstellen, zu sehr ist alles auf den liebeswahnsinnigen Orlando konzentriert, zu wenig ist von Plüscheleganz und Scheinwelt zu sehen.

Skurriles Sanatorium
Es ist das Reich von Zoroastro, einem glatzköpfigen und aalglatten Psychiater, der Orlando von seinem Liebesrausch befreien und zum kampftauglichen Helden kurieren soll. Günther Groissböck spielt seine Rolle souverän, lässt aber bei seinem Bass das teuflische Fundament vermissen.

Assistiert wird dem Beherrscher der Seelen von zahlreich auffahrendem Pflegepersonal, worunter sich auch die «Schäferin» Dorinda befindet. Mit wunderbar leicht ansprechendem Soubretten-Sopran präsentiert Christina Clark diese naive junge Frau, die auf alles hereinfällt, was sie umgurrt; auch auf Orlando, der sie im Delirium am Tropf hängend mit Liebesbezeugungen geradezu erstickt. Ein reichlich skurriles Szenario, wie so vieles an diesem Abend, das zum Schmunzeln anregt und doch nicht ganz passen will.

Medoro zum Beispiel muss sich deftig in Szene setzen, seine angebetete Angelica begrabschen, Dorinda befummeln und sich von ihr die Dandy-Hosen aufknöpfen lassen. Katharina Peetz gestaltet diesen nicht ganz einfachen Geschlechtertanz mit bemerkenswerter Souveränität, ihre Stimmführung lässt aber in Eleganz und Phrasierung noch etwas Erfahrung mit Händel vermissen. Anders die quicklebendige Martina Jankova mit gut fokussiertem Sopran und virtuosen Koloraturen als Angelica; und dies trotz schwieriger Figurenkonstellation: man wird nie ganz schlau, ob sie nun Patientin oder Besucherin ist.

Der Star: Orlando
Und dann ist da Orlando in Kampfmontur im Stil des Ersten Weltkriegs, changierend zwischen unkontrolliertem Wahn, verinnerlichter Trauer und Rache-Extase. Marijana Mijanovic bleibt ihrer Rolle nichts schuldig, weder schauspielerisch noch szenisch. Ihr lupenreiner Alt mit einer unglaublich sonoren, faszinierenden Tiefe beherrscht alle Schattierungen der barocken Gesangskunst, und die von Händel einst für den Starkastraten Senesino komponierte Rolle fordert ihr alles ab: Koloraturen, Staccati, Parlandi, rezitierend und jubilierend singt sie sich durch den Abend.

Regisseur Jens-Daniel Herzog und sein Ausstatter Mathis Neidhart berauben mit ihrem Konzept die Oper jeglicher zauberbedingter Spezialeffekte und wollen damit der berückenden Gefühlskraft von Händels Musik Raum geben. William Christie nimmt den Ball dankbar auf und gestaltet die Partitur rhythmisch und farblich bis ins Feinste, klangverliebt weich und innig. Trotzdem ergeben sich immer wieder Längen, wirken Szene und Musik zuweilen gegeneinander gebürstet. Händel ist eben auch zauberische Allegorie und nicht nur Psychologie.

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Tages-Anzeiger

17. 01. 2006 / Susanne Kübler

Mit Liebe, Verstand und sehr viel Humor

Es ist zwar erst Halbzeit im Zürcher Opernhaus. Aber die Versuchung, Händels «Orlando» schon jetzt als beste Neuproduktion dieser Saison auszurufen, ist gross.

Ziemlich verdattert steht Orlando am Ende auf seinem Podest. Orden statt Liebe, Blumen statt Gefühle: So hatte er sich den Heldenruhm nicht vorgestellt. Umso glücklicher sind alle anderen. Angelica, weil sie Orlando mit Anstand losgeworden ist (jedenfalls einigermassen) und ihren Medoro gekriegt hat. Dorinda, weil sie Medoro zwar nicht gekriegt hat, aber dafür von Zoroastro betätschelt wird. Und das Publikum, weil es eine in jeder Hinsicht grossartige Aufführung erlebt hat. Der Kritikerin bleibt nur, dem Loblied sechs Strophen anzufügen.

1. Georg Friedrich Händel. Viele Komponisten haben Ariosts «Orlando furioso» als Vorlage genommen, Händel selber gleich drei Mal. Die Gattungsbezeichnung dieser Werke lautet jeweils Opera seria, was Regisseure heute, da Heldenmut und entsagende Liebe etwas aus der Mode gekommen sind, gern als Opera ironica verstehen. In Händels «Orlando» klappt das besser als anderswo. Die Geschichte eines Kriegers, der aus Liebeskummer wahnsinnig wird und die Geliebte nach wundersamer Heilung grossmütig ziehen lässt, ist musikalisch mit allerlei doppelten Böden ausgestattet. Wahre Gefühle müssen manchmal geheuchelt werden, Wahnsinn ist zuweilen gar keiner. Und von den langen Tönen über bewegter Begleitung, zu denen Händel wie kein Zweiter schwärmen und leiden lassen kann, bekommt man sowieso nie genug.

2. Jens-Daniel Herzog. Liebe, Angst Ruhm, Verstand: Über diese Begriffe doziert Chefarzt Zoroastro, im Original noch ein Zauberer, zu Beginn des Stücks. Eine Analyse von Herzogs Inszenierung nach seinen Prinzipien würde ergeben, dass sie mit Liebe und Verstand entworfen wurde - und dass Zoroastro unbedingt auch den Humor in seinem Weltentwurf berücksichtigen sollte. Denn klüger, liebevoller, witziger liesse sich die Geschichte kaum für heutige Gemüter übersetzen: Wir befinden uns in einem Sanatorium (weil Wahnsinnige da nun mal hingehören in aufgeklärten Zeiten), in den 1910er-Jahren (weil der Ausstatter Mathis Neidhart die geschmackvolle Extravaganz offensichtlich schätzt). Schon die Bühne erzählt eine Geschichte: Aus den edel bespannten Wänden schieben sich längs und quer Korridore in den Raum, ein Bett wird herausgeklappt oder Zoroastros Wandtafel ausgestellt. Labyrinthartige Gänge entstehen so, wenn die Konstellationen kompliziert werden, oder auch ein gnadenlos klares Quadrat, wenn Orlando der abtrünnigen Angelica mit der Axt hinterher ist.

So einleuchtend der Ort, so stark ist die Personenführung. Jens-Daniel Herzog erzählt die Geschichte (und viele weitere Geschichten) unaufgeregt, detailfreudig, mit feinem Gespür für die Musik. Dass manche Metaphern ein wenig seltsam wirken im neuen Umfeld, schadet nichts: Sollen Angelica und Medoro doch die Bäume und Blumen besingen, die es hier nirgends gibt. Irgendwie (und die Offenheit ist nicht die geringste Qualität der Inszenierung) sind ja auch sie Insassen dieser Anstalt.

3. William Christie. Gesungen wird italienisch in dieser Oper, die 1733 in London entstanden ist; aber wenn der amerikanische Wahlfranzose Christie dirigiert, klingt alles irgendwie französisch. Ausgeprägte Punktierungen, flüssige Tempi, kleine, leichte Verzierungen: Das kennt man von seinen Rameau- oder Charpentier-Aufführungen, das bewährt sich auch bei Händel. Schwung- und kraftvoll, mit silbernem Klang musiziert das operneigene Barockorchester La Scintilla, die Funken sprühen namensgerecht, und die Geschmeidigkeit der getragenen Linien ist betörend: So elegant ist noch selten einer in den Wahnsinn begleitet worden.

4. Marijana Mijanovic. Da lässt sich auch die Darstellerin des Orlando nicht bitten. Wie maskulin die serbische Altistin zumal in der Tiefe klingen kann, hat sie schon öfter vorgeführt, auch ihre herbe Bühnenpräsenz ist bekannt. Hier zeigt sie nun zusätzlich, wie ungemein irr sie wirken kann. Flackernder Blick, fahle Töne, plötzliche Aggressivitätsschübe - das wirkt bedrohlich, Mitleid erregend und Respekt heischend zugleich. Mijanovic singt schneidend kalt oder mit überströmender Wärme, ruhig selbst in den turbulentesten Passagen und gespannt in den ruhigen. Und sie wirkt nicht einmal dann lächerlich, wenn sie durch hochvirtuose Koloraturen jagt, während ihr ein Pfleger die Schuhe putzt (auch die Statisten hätten eine Strophe in diesem Loblied verdient).

5. Janková, Peetz, Clark, Groissböck. Orlandos Liebe gilt Angelica, und man kann ihn verstehen. Martina Janková singt hinreissend, sieht mit ihren weissblonden Locken ebenso aus, und schauspielerisch ist sie besser denn je. Wie sie das Beleidigtsein beim Stillen eines Nasenblutens zelebriert, ohne dabei die vokale Konzentration zu verlieren, ist schlicht grandios. Dagegen hat selbst Christina Clarks Dorinda keine Chance, obwohl sie mit ihrem vögelchengleichen Sopran und dem durchaus freizügigen Anlehnungsbedürfnis immer wieder in Medoros Blickfeld gerät.

Auch dieser hat gegenüber Angelica einen schweren Stand, nicht nur, wenn er ihr wortwörtlich unterliegt; die Sopranistin Katharina Peetz, die in dieser Männerrolle nicht so hoch singen darf wie die Frauen und auch nicht so tief wie Orlando, hat die undankbarste Partie in diesem Stück - und schafft dennoch ein facettenreiches Porträt. Zoroastro schliesslich, der Drahtzieher der ganzen Geschichte, verfügt nicht nur über einen substanziellen Bass, sondern auch über jene Chefarzt-Gesten, die man aus Vorabendserien kennt (Kugelschreiber am Mundwinkel, wissend-besorgtes Stirnrunzeln): Günther Groissböck, 30 Jahre alt und seit letzter Saison in Zürich, erweist sich nicht zum ersten Mal als Glücksfall fürs Ensemble.

6. XY. Es bleiben ein paar Zeilen für das Lob der Bühnentechnik. Ohne die reibungs- und lautlose Wändeverschieberei ginge manche Pointe verloren - dank ihr wirkt dieser «Orlando» so musikalisch, leichtfüssig und stringent, wie er gedacht ist. Noch sieben Wiederholungen gibt es in dieser Saison, man sollte sie nicht verpassen.

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Zürcher Oberländer

17. 01. 2006 / Sibylle Ehrismann

Barocke Liebe bis zum Wahnsinn

Georg Friedrich Händels wenig bekannte Oper «Orlando» wird erstmals im Zürcher Opernhaus gespielt. Das Premierenpublikum nahm am Sonntagabend die Barockoper begeistert auf.

Allmählich mausert sich das Opernhaus Zürich zu einer Spezialbühne für die Barockoper. Was mit Nikolaus Harnoncourt begonnen hat - die Spezialisierung einiger Orchestermusikerinnen und -musiker auf historische Instrumente im hauseigenen Orchester La Scintilla -, treibt nun interessante Blüten. Neben Marc Minkowski gelingt es auch William Christie, in Zürich eine echte Händel-Fangemeinde aufzubauen. Die Premiere von Händels «Orlando» am Sonntagabend wurde jedenfalls begeistert aufgenommen.

Authentische Spielpraxis
Eines der zentralen Probleme bei Barockopern ist die Inszenierung. Wie geht man heute mit all den allegorischen und mythologischen Figuren und Spielorten um? Anders als bei der musikalischen Umsetzung, die mit authentischer Spielpraxis eine klanglich und rhythmisch ausgesprochen reizvolle Interpretation gewährleisten kann, wirken die Regieanweisungen von damals eher naiv. Zudem ist auch die Sängergestik von einst eine ganz andere als im heutigen Regietheater.

Entsprechend gross war beim «Orlando» die Erwartungshaltung der Regie gegenüber. Händels «Orlando» ist nämlich eine ausgesprochene «Zauberoper», welche die einst so spektakulären Bühneneffekte mit dem Zauberer Zoroastro so richtig zelebriert. Zudem spielt die Geschichte in einer Ritterwelt, ist Orlando doch ein Held, der an der Liebe wahnsinnig wird. Dazu gehören auch die ländliche Idylle, die Natur, das fliessende Bächlein, der Lorbeerwald, welche die naive Seele der Schäferin Do
rinda symbolisieren. Diese beiden Figuren wurden eigens für dieses Opernlibretto zur Geschichte vom «Rasenden Roland» hinzuerfunden.

Sanfte Modernisierung
Regisseur Jens-Daniel Herzog und Ausstatter Mathis Neidhardt entschieden sich für eine sanfte Modernisierung. Sie verfrachten die Geschichte in eine Art «Zauberberg»-Sanatorium, das je nach Bedarf auch zur Irrenanstalt wird. Eine aufwändige Bühnenmaschinerie sorgt nicht für «Deus ex Machina»-Effekte, die der Zauberer auslöst. Sie schiebt auch hohe Wände lautlos hin und her, sodass das Einheitsbühnenbild «Sanatorium» mit seinen nobel tapezierten Wänden ohne Zeitverlust in labyrinthische Gänge verwandelt werden kann. So interessant dieses Grundkonzept ist - die Liebesverrücktheit wird so zum realen Irrsinn, der Zauberer zum nüchternen Arzt und die Szenerie zum klinisch kalten Einerlei - keine Spur mehr von Trugbildern und Zauberei.

Orchestrale Augenweide
Zum Glück wurde für diese Produktion der Orchestergraben hochgefahren. So konnte man William Christie und seine wunderbar atmende, eigenwillige Dirigiertechnik beobachten. Und auch die Musikerinnen und Musiker an ihren besonderen Instrumenten waren eine Augenweide. Was da an vielschichtigen Farben, an orchestralem Aufbrausen und kammermusikalischer Phrasierung, an feinster Detailarbeit und dramaturgischem Zug zusammenkam, war umwerfend. Diese musikalische Darbietung füllte denn auch den kargen, nüchternen Raum mit phantasievoller, den Wahn mit verblüffender Experimentierlust darstellender Klanglichkeit.

Die Sängerinnen und Sänger waren so musikalisch gut aufgehoben. Besonders gespannt war man auf das Debüt von Marijana Mijanovic, die mit tiefgründiger Altstimme den «Orlando» gab. Von Händel ursprünglich für den Star-Kastraten Senesino komponiert, fordert diese Monsterpartie ein aussergewöhnlich breites Spektrum an Ausdrucksqualitäten: heroische Bravourarien wechseln zu empfindsamen Gesängen, Resignation mit Wahnsinn, der auch musikalisch die Normen sprengt. Marijana Mijanovic sang den «Orlando» mit überzeugender Hingabe, erotischer Tiefe und virtuoser stimmlicher Agilität.

Lyrik und pralle Sinnlichkeit
Zu dieser einzigartigen weiblichen «Kastraten»-Stimme passte der lyrische und doch sehr vitale Sopran von Martina Janková ausgezeichnet. Sie verkörperte die prallsinnliche Angelika, die von Orlando nichts mehr wissen will und stattdessen mit dem dandyhaften Medoro ins Bett steigt. Sie spielte ihre Reize auch stimmlich mit farblichen Facetten und betörendem Charme aus. In der Hosenrolle des Medoro vermochte Katharina Peetz im Laufe des Abends mit zunehmender Präsenz und stilistischer Sicherheit zu gefallen.

In diesem recht eindimensionalen Regiekonzept wirkte vor allem Christina Clark in der Rolle der Schäferin Dorinda etwas verloren. Sie ist unsterblich und naiv in Medoro verliebt, wirkt aber als einfache Pflegerin im Sanatorium zu einfach, zu bescheiden. Auch nahm man ihr das plötzliche Aufflammen für den «irren» Orlando, der ihr eine Liebeserklärung macht, nicht ab. Stimmlich wusste sie aber mit graziler Leichtigkeit und zunehmender Charakterstärke eine eigene dramaturgische Kraft zu entwickeln.

Ein «vernünftiger» Zauberer
Für eine echte Überraschung sorgte schliesslich Günther Groissböck in der Rolle des «vernünftigen» Zauberers und Irrenarztes Zoroastro. Mit welcher Kraft und Agilität er die Koloraturen meisterte, und wie vielschichtig und farbenreich er die Partie ausgestaltete, das war einfach hinreissend.

Schade nur, dass die Regie nicht mehr Mut zum Kontrast und zur Wahn-Fantasie hatte. So wirkten nicht nur die Genien, die in Zürich allesamt zu Pflegerinnen und Pflegern wurden, eigenartig nüchtern und sachlich. Auch die Reduktion des Liebeszaubers auf prallen Sex wirkt zu direkt. In einer Zauberoper dürfte man ruhig etwas öfter mit den Augen zwinkern, als es in dieser musikalisch hochkarätigen Zürcher Produktion der Fall ist.

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Zürichsee-Zeitung

17. 01. 2006 / Werner Pfister

Händel in der Psychiatrischen

Frenetisch akklamierte schweizerische Erstaufführung von Händels «Orlando»

In der Händel-Renaissance spielt das Opernhaus Zürich seit Jahren an vorderster Front tonangebend mit. Mit «Orlando» setzt Regisseur Jens-Daniel Herzog einen neuen Höhepunkt.

Liebe macht nicht nur blind, Liebe macht auch verrückt. Wenn sich «amore», «paura», «gloria» und «ragione» im menschlichen Gehirn unkontrolliert zu widerstreiten beginnen, kann das zum Wahnsinn führen. In seiner wundersamsten Dichtung, im Ritterepos «Orlando furioso», hat der Renaissance-Poet Ludovico Ariosto dieser Verrücktheit ein herrliches Denkmal gesetzt. Die Grossen der Weltliteratur liessen sich davon beeinflussen, von Shakespeare und Goethe bis zu J. R. R. Tolkien und Umberto Eco. Auch für die Opernbühne war dieser Stoff ein gefundenes Fressen: Ausser Händel haben sich auch Lully, Vivaldi, Haydn und Scarlatti damit auseinander gesetzt.

Opernkomponist Georg Friedrich Händel griff gleich dreimal auf den «Orlando furioso» zurück: in «Orlando» und spâter in «Ariodante» und «Alcina». Für den «Orlando» liess er sich jenes Libretto neu einrichten, welches bereits Domenico Scarlatti vertont hatte; die Musik dazu - eine der farbenprächtigsten Opernpartituren Händels - schrieb er zwischen Oktober und November 1732, also in Monatsfrist. Die Titelpartie übernahm der berühmte Star-Kastrat Senesino; es sollte seine letzte Rolle in einer Händel-Oper werden.

Geschlossene Anstalt
Wahnsinn - wenn einer plötzlich verrückt spielt - wird spätestens seit Freuds tiefenpsychologischen Erkundungen des Menschen als Flucht aus der Wirklichkeit betrachtet, einer Wirklichkeit, die nicht mehr zu ertragen ist. Orlando, der ruhmreiche Kriegsheld, will aussteigen, will die Welt seiner Krieger-Karriere mit der Welt der Liebe vertauschen. Er will nicht mehr nur funktionieren, will, statt nur Maschine im Getriebe zu sein, ein Mensch werden.

Genau das inszeniert Jens-Daniel Herzog: die Tragödie eines Menschen, der an den gesellschaftlichen Wertesystemen von Karriere und Heldentum zerbricht - «Burn-out-Syndrom» heisst im heutigen Neudeutsch der pathologische Befund - und der in den verschwiegenen Wänden einer geschlossenen Anstalt (eines Sanatoriums oder einer psychiatrischen Klinik) Hilfe resp. Genesung resp. sanfte Wiedereingliederung in dieses gesellschaftliche Wertesystem sucht.

In dieser Psychiatrischen also - in Bühnenräumen von Mathias Neidhart - spielt Händels «Orlando», in der Bettenstation (Vierer-Belegung), in der Wäscherei, im Speisesaal; Räume gehobenen Standards mit der leicht angekratzten nostalgischen Patina von vor hundert Jahren, Korridore mit Fluchten von Türen und Tapetentüren. Ein geniales Einheitsbühnenbild, wo seitlich und vom Bühnenhintergrund herausfahrbare Wände sowohl grosse Raumverhältnisse, aber auch intime Räumlichkeiten zulassen.

Halbgott in Weiss
Zoroastro, den Händel zum Plot hinzuerfand (und bei Ariost nicht vorkommt), Zoroastro, der damals durchaus zeittypisch angelegt war als Aufklärer und Verwalter des Wissens, ein Halbgott der Ratio sozusagen, dieser Zoroastro ist hier ein Halbgott in Weiss: leitender Arzt der psychiatrischen Klinik. Er veranstaltet mit dem «ausgebrannten» Orlando ein psychiatrisches Experiment, lässt ihn sein Lieben, sein Versagen, seinen Wahnsinn in den geschützten Wänden der geschlossenen Anstalt nochmals erleben.

Zwingt ihm zu Beginn emen Kriegsfilm auf, und genau das ist das Ziel der Therapie: aus Orlando wieder einen ruhmsüchtigen Krieger zu machen. Zwingt ihm - durchaus im Sinn des aristotelischen Theaters - eine therapeutische Katharsis auf, eine innere Reinigung also, die ihn aus der vielfältigen Verstrickung seiner Affekte lösen und wieder funktionstüchtig machen soll. Denn jeder Aussteiger ist letztlich eine Gefahr für die Gesellschaft, besonders, wenns ihrer zu viele gibt.

Typisch barockes Experimentiertheater also, und das ist in dieser Inszenierung wohl am meisten zu bewundern: dass diese psychologische Innen- und Tiefenschau in die verschwiegenen Abgründe menschlicher Existenz als leichtgewichtiges Vorzeigetheater inszeniert wird. Die Grenzen zwischen Lebensernst, zwischen Wirklichkeit und Illusion, werden virtuos umspielt. Es darf auch gelacht werden: wenn Personen, die zur falschen Zeit auftreten, von Zoroastro mit Äther betäubt und dadurch für eine gewisse Zeit aus dem Verkehr gezogen werden; wenn sich zwei Nebenbuhlerinnen, die eine lachend, die andere weinend, Kissenschlachten auf der Bettenstation liefern.

Funktioniert das psychiatrische Experiment Zoroastros letztlich? Gelingt es ihm, «amore», «paura», «gloria» und «ragione» im Gehirn Orlandos wieder in ein funktionstüchtiges Gleichgewicht zu bringen? Zum Schluss wird Orlando als Kriegerstatue in die Höhe gefahren, die am Verwirrspiel Mitbeteiligten legen Blumensträusse nieder. Ist er zum Denkmal seiner selbst erstarrt? Genau diese Frage scheint sich Orlando selber zu stellen, nachdem die Musik ganz verklungen ist nun locker auf dem Denkmalsockel sitzend und sinnierend. Wunderschôn.

Eine Wucht an Sinnlichkeit
Und wunderschôn klingt es auch, im Orchester und auf der Bühne bei den Sängerinnen und Sängern. William Christie, der bereits eine tonangebende Einspielung von Händels «Orlando» vorgelegt hat, dirigiert die Barockformation des Opernhausorchesters, das Orchestra La Scintilla: ein hinreissend frisches, völlig unverkrampftes Musizieren. Da ist alles im Lot, die äusserst lebendige motivische Gestaltung, die geschickt mit ins musikalische Spiel gebrachte Theatralik, die beseelten Töne, die filigranen Feinheiten im Klang. Eine Wucht an Sinnlichkeit geht zudem vom Continuo aus: mit Brian Feehan (Theorbe), Claudius Herrmann (Violoncello), Benoit Hartoin (Cembalo) und Dieter Lange (Kontrabass).

Auf nur fünf Rollen beschränkt sich Händels «Orlando». In der Titelrolle Marijana Mijanovic, die prominente Fachfrau für heroische Altkastraten-Partien, die an Physis, Bühnenpräsenz und Gestaltungsintensität ihresgleichen in diesem Fach wohl kaum hat. Allerdings, ihre Stimme wirkt in der Höhe neuerdings etwas flatterig und flach und neigt gelegentlich zu forciertem Tremolo. Martina Janková dagegen verwöhnt als Angelica die Ohren der Zuhörer mit rundum vorbildlichern Händel-Gesang und ist darüber hinaus quirlig kokette Prinzessin mit unwiderstehlichem Verwöhncharakter.

Katharina Peetz bringt mit ihrer süssherben Mezzostimme beste Voraussetzungen für den Medoro mit, und sie stellt auch schauspielerisch ein echtes Mannsbild dar. Cristina Clark stattet die Partie der Dorinda mit subtil anrührenden Silbersoprantönen aus, und Günther Groissböck ist mit seinem markanten, gleichzeitig auch geschmeidigen Bass ein souveräner Zoroastro, agil in der Stimmführung, gewandt in den vielen Koloraturen - einer, der auch schauspielerisch alle Register zieht und alle Fäden in Händen hält, einen ganzen, genial gelungenen Opernabend lang. Wie gesagt: frenetischer Applaus für alle Beteiligten.

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