Presse-Spiegel
Opernhaus Zürich
SYNOPSIS
LIBRETTO
HIGHLIGHTS
HK Gruber: "der herr nordwind"
12. Juni 2005 (Première)
   Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühnenbild
Kostüme
Lichtgestaltung

Prior
Herr Nordwind
Geppone
Holla, Frau Nordwind
Anna, Geppones Frau
Bischof
Köchin
Kaplan
HK Gruber
Michael Sturminger
Andreas Donhauser
Renate Martin
Hans-Rudolf Kunz

Cornelia Kallisch
Oliver Widmer
Alexander Kaimbacher
Judith Schmid
Sandra Trattnigg
Reinhard Mayr
Volker Vogel
Peter Keller
Verzeichnis

Rezensionen
     Persönlicher Eindruck
einer Premièren-Besucherin
Eisige Bise im Zürcher Opernhaus
Eine Art Heinz-Wurstiade
Märchenhaft komisch
Kästlein deck dich
Mit Witz und Schalk ins Märchenland
Klare Einsichten, schlechte Aussichten
Herzhaft auf das Weib gespuckt
Von Frau Holla zum Göttersturz
Lyrismus statt Aberglauben
Würste und Wein und Hochdruck-Musik
Modernes Märchen mit Musik-Mix
Die da oben und die da unten

Schwarze Tinte für die Toskana
Märchen für das Opernhaus
Märchenhafte Möbiusschleife
Baseballspieler mischen das Fresskonzil auf
Die Bratwurst zaubert uns ein Osterei
Wiener Schmäh in Zürich

"Der Herr Nordwind" Is a Raucous, Witty Hit

    

Vox spectatricis

13. 6. 2005 / Chantal Steiner

Von windigen Pfaffen und hungrigen Bauern…

Das Herbert von Karajan Centrum beauftragte zu seinem 10-jährigen Bestehen den österreichischen Dichter H.C. Artmann (1921–2000), ein Libretto zu einer Kinderoper zu schreiben. H.C. Artmann war bekannt als Bonvivant, Verwandlungskünstler, poetischer Avantgardist und als einer der Initiatoren der „Wiener Gruppe“. Er war ein Sprachkünstler, der aus seinem grossen Sprachfundus schöpfend literarische Vergangenheit mit modernen Elementen zu verbinden vermochte.

Als Komponist konnte HK Gruber (*1943) gewonnen werden, eine der bekanntesten zeitgenössischen Musikpersönlichkeiten. Ehemaliger Wiener Sängerknabe, Kabarettist, Kontrabassist und Dirigent – als Komponist kann sich Gruber auf ein breites musikalisches Wissen stützen. Allerdings wollte Gruber keine „Kinderoper“ komponieren, da es diese Gattung seiner Meinung nach nicht gibt – es gibt nur „die Oper“.

Das Märchen „Tischlein deck dich“ kennt wohl jeder. H.C. Artmann wurde nach langem Suchen fündig und entdeckte die toskanische Fassung dieses Märchens, „Il regalo del vento tramontano“, welches er in seiner unnachahmlichen Art übersetzte und erweiterte. Aus dem „Vento Tramontano“ wurde „der Herr Nordwind“.

Der Bauer Geppone und seine Familie nagen am Hungertuch. Schuld an der Misere ist der Herr Nordwind, der noch im Mai über die Felder pfeift und die Ernte vernichtet. So fasst sich der geplagte Landmann ein Herz und schultert seinen Rucksack, um beim windigen Gesellen (der motorradbebrillt mit einem Luftmobil seinen Auftrag versieht) vorstellig zu werden und ihm sein Leid zu klagen. Er findet ein offenes Ohr bei Frau Holla, Nordwinds Gattin, die ihm (nach einem Schäferstündchen, wovon im ur­sprüng­lichen Text allerdings nicht die Rede ist) ein silbernes Kästchen-deck-dich überreicht, das im Notfall mit jeder Menge Speis und Trank aushelfen soll. Geppone bringt das spendable Kästchen nach Hause und scheint aller Sorgen enthoben. Doch das Glück währt nicht lange, denn vom Duft des Bratens angezogen, findet sich der Prior ein und versteht es, Geppones gutgläubiger und schwatzhafter Gattin Anna das Kleinod abzuluchsen. Geppone macht sich also nochmals auf den Weg, und das ganze Spiel beginnt von vorne. Herr Nordwind möchte den Prior am liebsten bestrafen, doch Geppone legt ein gutes Wort für ihn ein und meint „eine Tracht Prügel würde reichen“. Frau Holla gibt Geppone diesmal ein goldenes Kästchen. Die Familie ist zufrieden und satt. Nun erscheint die Köchin des Priors, die – natürlich – der plaudernden Anna das Geheimnis wieder entlockt. Flugs reisst sich der Prior auch dieses Kästchen unter den Nagel. Er lädt den Bischof zu einem Fresskonzil ein. Der wird von 4 Biedermännern begleitet, die alle zuerst nur ein Osterei zu essen bekommen. Ein Bettelmönch wird von dieser feinen Gesellschaft arg behandelt, darf aber – ohne zu essen – am Tisch auf einem Höckerchen Platz nehmen (wie nobel!). Als der Prior in sein Zauberkistchen greifen will, erscheinen vier amerikanische Baseballspieler mit Schlägern (ebenfalls im „Luftmobil“ heranrauschend), die die ganze Gesellschaft windelweich klopfen. Geppone wird zu Hilfe geholt. Der erkennt im Bettelmönch einen wirklich barmherzigen Menschen, der Hilfe für Arme sucht, und gibt ihm das goldene Kästchen, damit dieser Gutes tun kann. Der Prior ist erschüttert und sieht sein Unrecht ein, gibt Geppone das silberne Kästchen zurück – aber der Bischof ist schneller und flüchtet damit. Womit sich der Kreis schliesst und Geppone wiederum sein Bündel schultern muss, um seine Familie zu ernähren. Wird er wieder Hilfe bei den göttlichen Helfern suchen oder nimmt er endlich sein Schicksal selbst in die Hand?

Dieses Märchen wird mit viel Sprachwitz, manchmal auch Nonsens erzählt. HK Gruber fungiert – anfangs nach hinten dirigierend – als Sprecher, untermalt von einem Klangteppich von Spieluhren. Häufig hat Gruber das Wort als Sprechgesang stehen lassen, damit die ganze Schönheit der Wortschöpfungen sich entfalten kann. Verdankenswerter Weise hat – endlich – das Zürcher Opernhaus auch bei einem deutschen Werk Übertitel angebracht (auch wenn die Diktion allgemein hervorragend war), so dass alle Feinheiten verständlich wurden. Herr Nordwind und seine Frau sprechen ein Kunst-Skandinavisch (ob sich dahinter nicht vielleicht doch noch ein Sinn versteckt, konnte ich noch nicht eruieren). Es ist für mich schwierig, über das Musikalische zu urteilen, habe ich doch zur zeitgenössischen Musik keinen wirklichen Bezug; ich versuche es zwar immer wieder, aber mein Ohr ist noch nicht genügend geschult. Die Komposition von HK Gruber jedoch ist (bis auf den Schluss, der mir viel zu laut geriet) spannend, interessant, bisweilen filigran, sängerfreundlich, meist tonal. Bei einer Uraufführung mit einer solchen inszenatorischen Fülle ist es jedoch schwierig, sich nur auf das Musikalische zu konzentrieren. Also begnüge ich mich mit einem Gesamteindruck.

Sängerisch ist es für mich ebenfalls schwierig zu urteilen, da die normalen Kriterien wie Legatobögen etc. weitgehend ausser Kraft gesetzt sind. Bei einigen Passagen war ich mir nicht sicher: “Sind die Sänger jetzt an ihre Grenzen gelangt oder wird das so verlangt?“. Insgesamt war es ein hervorragendes Sängerensemble. Oliver Widmer als der Herr Nordwind verkörpert diesen markig; für mein Empfinden chargiert er jedoch zu sehr und ist in jeder Rolle „Oliver Widmer“. Wunderschön hingegen seine überaus sinnliche Frau Holla, die von Judith Schmid mit warmem, betörenden Mezzo gesungen wurde. Erfreulich auch der aufmüpfige, quirlige Geppone von Alexander Kaimbacher, der Prior von Cornelia Kallisch, welche diesem schlüpfrigen Kirchenmann doch Charme und Pfiff verlieh, die Köchin von Volker Vogel, der sein komödiantisches Talent voll ausschöpfen konnte, sowie der Bischof von Reinhard Mayr. Die Anna von Sandra Trattnigg kam mir etwas hysterisch herüber, aber vielleicht musste dies auch sein. Die kleinen Rollen waren allesamt adäquat besetzt.

Das (grosse) Orchester erledigte sich seiner zweifellos nicht einfachen Aufgabe blendend; mit Hingabe, Verve, Spritzigkeit ging es auf den Dirigenten ein, der sichtlich zufrieden war mit dieser Uraufführung.

Die Inszenierung von Michael Sturminger, der nach dem Tode H.C. Artmanns die wichtigste Ansprechperson von HK Gruber war, ist einfallsreich, bisweilen romantisch, bisweilen satyrisch, hat Slapstick- und Comic-Anleihen und ist – wie das Stück selbst – doch auch sehr (sozial-)kritisch. Herr und Frau Nordwind leben im Himmel, die armseligen Menschen auf der Erde in einer klitzekleinen Hütte und der Klerus in der Hölle. Es ist offensichtlich, dass die Kirche sehr stark angeprangert wird. Die Inszenierung könnte eventuell mehr Raum für die eigene Gedankenentfaltung lassen, doch empfand ich die Regieanfälle nicht als „Holzhammer“. Auch junge Zuschauer dürften an dieser Produktion ihre Freude haben.

Das Stück wurde mit mehr als nur freundlichem Applaus aufgenommen, starke Beifallsbekundungen für die Sänger und das Regieteam, etwas verhaltenere für HK Gruber selbst. Auf jeden Fall war es ein vergnüglicher Abend, die Wortspiele haben mir bestens gefallen und mir mehr als einmal ein Lachen entlockt. Für Leute, die sich auch mal auf etwas einlassen, das jenseits des allgemein Bekannten ist, dürfte es eine Bereicherung sein.

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Aargauer Zeitung

14. 6 . 2005 / Fritz Trümpi

Eisige Bise in der Zürcher Oper
Uraufführung HK Grubers «Der Herr Nordwind» nach dem Libretto von H. C. Artmann

Nach sieben langen Jahren ist endlich wieder einmal eine Uraufführung im grossen Haus der Oper Zürich über die Bühne gegangen: eine durch und durch österreichische Produktion.

Arm bleibt, über kurz oder lang, arm. So die Moral von der Geschicht in H. C. Artmanns Märchen «Der Herr Nordwind», das man durchaus als sozialkritische Satire verstehen kann. So zumindest legt es einem der Wiener Komponist HK Gruber, der das einzige Opernlibretto des wienerischen Dichters vertont hat, nahe: Der arme Bauer Geppone kriegt zweimal ein «Kästlein deck dich» vom Herrn Nordwind geschenkt, da ihm dieser regelmässig die Felder verwüstet. Für kurze Zeit kann Geppone damit seine hungrige Familie ernähren, doch bald knöpft ihm der Klerus unter turbulenten Umständen die Kästchen ab, sodass der Bauer und seine Familie am Ende wieder mit leeren Mägen zu Bett gehen müssen.

Von der Sprache geleitet
In seiner Vertonung des Textes, der in typisch Artmannscher Manier mit ins Groteske führenden Formulierungen und vielschichtigen Anspielungen angereichert ist, hat Gruber der Sprache einen buchstäblich hervorragenden Platz eingeräumt. Auf der einen Seite gestaltete das Gesangsensemble seine Partien in ungewohnt genauer Diktion: Oliver Widmer brillierte in der Titelrolle als kerniger Bass, während Judith Schmid (Alt) stimmlich wie sinnlich als Gattin Holla eine gute Figur machte, Alexander Kaimbacher seinen Tenor als agiler Geppone zum Glänzen brachte und Sandra Trattnigg in der Rolle von dessen Frau durch ihren dichten Sopran überzeugte.

Andererseits ist auch die Musik selbst von der Sprache geleitet; der musikalische Gestus gestaltet sich stets nach dem sprachlichen Ausdruck und nach den lautmalerischen Momenten der Wörter. Was konzeptionell und kompositorisch als durchaus reizvolle Idee erscheinen mag, erschlafft für die Dauer eines Opernabends jedoch beträchtlich. Neben interessanten klanglichen Effekten weist Grubers tonale Gängelung des musikalischen Materials nach einiger Zeit Verschleissmomente auf, die dem intensiven Hören nicht unbedingt zuträglich sind - dem gut disponierten Orchester der Oper Zürich unter motivierendem Dirigat des Komponisten zum Trotz.

Keine starke Regiehandschrift
Ebenso ambivalent nimmt sich die neuste Zürcher Produktion auf der Ebene der Inszenierung aus. So vermochte der österreichische Regisseur Michael Sturminger zusammen mit dem Ausstattungsteam Renate Martin (Kostüme) und Andreas Donhauser (Bühnenbild) zwar die Handlungsstränge auf stimmige Weise in ein schönes Bühnenbild einzubetten; eine eigentliche Regie der Protagonisten, die über die in der traditionellen Opernregie stets wiederkehrenden Gesten und Gags hinausreicht, liess Sturminger indes vermissen. Ein Glück also, dass den einzelnen Partien eine dicht gewobene textliche Grundlage beschert war. Und ein Glück, dass das Gesangsensemble hervorragend besetzt war und der angestrebten Einheit von Text und Musik grösstmöglichen Vorschub leisten konnte.

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Basler Zeitung

14. 6. 2005 / Sigfried Schibli

Eine Art Heinz-Wurstiade
«Der Herr Nordwind» von H.K. Gruber am Opernhaus Zürich

In homöopathischen Dosen mutet das Opernhaus Zürich seinem Publikum modernes Musiktheater zu. Diesmal in Uraufführung ein Werk der beiden Österreicher Heinz Karl Gruber und H.C. Artmann.

«Dein herbstlich Tun verweht / Was ich an Korn gesät.» Diese holprigen Verse sind nicht nur typisch für den an der Volksdichtung orientierten Sprachstil des Librettos von H.C. Artmann, sie fassen auch den Ausgangspunkt der Handlung zusammen. Das zerstörerische Wirken des Herrn Nordwind bringt die Familie des Bauern Geppone an den Rand des Hungertodes, so dass Geppone verzweifelt den Windgott aufsucht und ihn anfleht, er möge doch von seinem windigen Tun ablassen.

Obwohl Geppone die Gastfreundschaft von Nordwinds Gattin Holla ein wenig frei auslegt und gleich zu ihr unter die Bettdecke schlüpft, schenkt ihm Herr Nordwind nicht nur Gehör, sondern auch ein Zauberkästchen, aus dem wundersam Essen und Trinken quillt. Dieses Behältnis lindert die Not von Geppones Familie, bis der Prior das Ding entdeckt, auf das Wunder-Monopol seiner Kirche pocht und das Kästchen mitlaufen lässt. Gleich zwei Mal geschieht Peppone dasselbe - bis am Ende ein Schlägertrupp die Zauberkiste den klerikalen Klauen entwindet und wieder Gerechtigkeit herstellt.

KURZAtmIG.
Kaum zu glauben, dass diese dürftige Handlung mit ihrer billigen Religionskritik einen ganzen Opernabend tragen kann. Sie tut es auch nur dank etlicher Textwiederholungen und fantastischer Sprachexperimente in einer Art Pseudo-Althochdeutsch mit schwedischem Einschlag («krokur mik att hämta / thessi uförskämta») - und aufgrund der Tatsache, dass Musik einen Text immer zu strecken vermag. Die von Gruber - in Personalunion Komponist, Dirigent und Erzähler der Oper - ist schnell, kurzatmig, illustrativ und unlyrisch. Mal macht sie aus dem Opernhausorchester eine riesige Big Band, mal ahmt sie die Windgeräusche nach (wie schon Rameau in «Les Boréades» und später Messiaen), mal malt sie den Hunger in Tönen - mit Besteckklappern. Und immer lässt sie den Text durchkommen: Gruber ist Könner genug, die Story nicht mit Musik zuzukleistern.

KINDISCH.
Die Inszenierung von Michael Sturminger bestätigt den Verdacht, dass es sich bei «Der Herr Nordwind» um eine Art luxuriös aufgepepptes Kindertheater handelt. Da gibt es das Hüttchen mit possierlich verarmten Kindern, die mit rührendem Eifer über die hingezauberten Würste herfallen. Diesem irdischen Jammertal entgegengesetzt ist das kubistische Wolkenheim des Windgottes mit lustig schneienden Frau-Holle-Damen, als Transportmittel Luftvelozipede, die mühelos die Herzen des Publikums erobern. Männer spielen Frauen und Frauen mimen Männer - das erzeugt bei einem nicht allzu anspruchsvollen Publikum allemal Heiterkeit, zumal das Zürcher Ensemble engagiert mitgeht (Titelpartie Oliver Widmer). Viel Trockeneis auf der Bühne hüllt das Ganze ein, lässt aber noch so viel sichtbar, dass man sagen kann: Die Geschichte der modernen Oper käme gut ohne dieses Gruber’sche Opus novum aus.

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Berner Zeitung

14. 6. 2005 / Maria Künzli

Märchenhaft komisch
Schrill und augen zwinkernd: Die Oper «Der Herr Nordwind» bringt Klassikmuffel wie Puristen zum Lachen.

Mit seinem silberfarbenen Spacemobil rauscht er - die Föhnfrisur ist eine berufsbedingte Begleiterscheinung - durch Wald und Flur: eine Mischung aus Darth Vader, Alice Cooper und Mad Max. Den schicken Umhänge-Waschbrettbauch angeschnallt und den bodenlangen schwarzen Mantel umgehängt, beginnt der Nordwind (Oliver Widmer) zu singen: «Scalka ec fra thott fülki, falli sialf til vallar» - bewegende Worte. Doch sausend, brausend und singend vermasselt der Herr Nordwind dem Bauern Geppone (Alexander Kaimbacher) regelmässig die Ernte.

Die beiden Wiener HK Gruber und H.C. Artmann greifen bei ihrem einzigen gemeinsamen Werk, das am Sonntag in Zürich uraufgeführt wurde, auf das alte toskanische Märchen «Geppone» zurück. Artmann war das bekannteste Mitglied der berühmten «Wiener Gruppe», die in den Fünfzigern mit skurrilen Kunstaktionen und einem neuen Umgang mit Sprache und Tradition provozierte. So spickt Artmann (1921-2000), der einige Jahre in Bern gelebt hat, natürlich auch sein Libretto für «Der Herr Nordwind» mit seinem ganz eigenen schwarzen Schalk, für den er bekannt ist.

Gemeines
Das Pseudo-Schwedische in den Arien des Nordwinds und seiner ultrablonden, verarmte Bauern vernaschenden Frau Holla ist nur einer von vielen kleinen Scherzen, die sich das Duo Gruber und Artmann erlaubt hat. Lauter kleine Gemeinheiten, winzige politisch unkorrekte Pfeile mit Widerhäckchen und einem kräftigen Augenzwinkern, oft an der Schwelle zum schlechten Geschmack, aber nie darüber - Wiener Schmäh eben.

Doch zurück zu Geppone, dem armen Bauern. Dieser will den Zustand, dass er und seine Familie wegen des Nordwindes Hunger leiden müssen, nicht mehr länger hinnehmen. Also sucht er das Reich des rauhen Windes auf, vergnügt sich kurz mit dessen Frau Holla, bis der Hausherr vom Brausen zurückkehrt. Dieser kann nichts für Geppone tun, doch Holla gibt ihm ein silbernes Kästchen mit, welches täglich die besten Leckereien hervorzaubert. Geppone hätte also ausgesorgt - wäre da nicht seine schwatzhafte Frau Anna (Sandra Trattnigg). Diese tratscht die Sensation gleich an den Prior, das schrullige Oberhaupt der örtlichen Klostergemeinschaft (Cornelia Kallisch) und an dessen noch schrulligere Köchin (Volker Vogel) weiter. Beide konfiszieren das Teufelsgut und leben fortan in Saus und Braus.

Märchenhaftes
Neben einer erotischen Version von Frau Holle - einer Femme fatale im silbernen «Raumschiff» - setzt auch die Inszenierung von Michael Sturminger auf märchenhafte Akzente: Zwei bewegliche Elemente - Geppones und Nordwinds Haus - verwandeln sich mit Licht, Nebel und Kunstschnee in märchenhafte Behausungen.

Auf die weisse Leinwand im Hintergrund werden die verschiedenen Wetterlagen projiziert, je nachdem, wo sich der Nordwind gerade herumtreibt. Doch bei allem Spektakel steht immer das Wort im Zentrum, getragen von HK Grubers Musik. Sie ist so vielfältig wie Artmanns Wortspielereien: Während der Gereimtes, Ungereimtes, Pseudo-Schwedisches und Wiener Dialekt vermischt, verbindet Gruber, der mit sichtlichem Vergnügen am Dirigierpult steht, Tonales mit Seriellem, Rap mit Zwölftontechnik - und immer wieder klingt grosse Oper auf. Das liegt auch an den hervorragenden Akteuren, denen schauspielerisch wie gesanglich Flexibilität abverlangt wird.

Diese Leistung und die Originalität machen «Der Herr Nordwind» zu einer Oper, an der Puristen ebenso wie Klassikmuffel Gefallen finden werden - bei der Uraufführung erntete sie begeisterten Applaus.

Und die Moral von der ganzen G’schicht, falls man eine herauslesen will: Hoffe nicht auf ein Wunder, sondern handle selbst. Oder mit den Worten des Nordwindes: «Otta dagur öppnast, alla bijar sumen, sumar er icumen.»

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Blick

14. 6. 2005 / Roger Cahn

Kästlein deck dich
Humor in der Oper. Weder Wort noch Musik wollen so richtig ernst genommen werden. Und trotzdem passen beide kongenial aufeinander. «Der Herr Nordwind» von HK Gruber und H. C. Artmann wurde am Sonntag im Opernhaus Zürich uraufgeführt.

«Potzblitz» reimt sich auf «Witz», «Sarazenenfürst» auf «Leberwürst» oder «Dachs» auf «Bonifax». Und die Moral von der Geschicht: «Äkkla nu fyr averclan, mendis thessi cappelan». Das singen die Windgötter in einem schwedischen Dialekt, den es nicht gibt. Auf Deutsch etwa: «Ekle dich vor Aberglauben, meide deshalb die Kapelle.»

Der österreichische Kultautor H. C. Artmann (1921-2000) hat als letzten Text in seinem Leben ein Opernlibretto geschrieben. Sein Landsmann und Freund HK Gruber (62) - Chansonnier, Kontrabassist und erfolgreicher Komponist - nahm sich der Musik an.

Ein armer Bauer, dessen Ernte vom Wind zerstört wird, macht sich auf, um beim Verursacher des Schadens - dem Herrn Nordwind - zu reklamieren. Als Ersatz bekommt er ein «Kästlein deck dich», das sogleich von der Kirche konfisziert wird.

Der lokale Kirchenherr veranstaltet damit ein Fresskonzil, zu dem er auch den Bischof einlädt. Als das Kästchen vor den hungrigen Augen geöffnet wird, stehen vier bärenstarke US-Baseball-Spieler im Saal und verprügeln die ganze Runde. Zum Schluss fegen Herr Nordwind und Gattin Holla (Frau Holle) die Bühne leer. Alles nimmt wieder seinen gewohnten Gang.

Die Musik ist ein Mischmasch wie die Sprache Artmanns. Latein wird mit mittelalterlichen Gesängen unterlegt, wenn gefeiert wird, rapts und swingts im Orchestergraben, bei grossen Arien lässt auch schon mal Puccini grüssen.

Regisseur Michael Sturminger findet eine originelle Lösung für die einfache Handlung sowie die ständig wechselnden Schauplätze. Videos zeigen die Himmelsstürme, verschiebbare Bauten - wie die ärmliche Hütte des Bauern oder das kalt-luxuriöse Wolkenheim - schaffen Atmosphäre, und Motorräder, die durch die Luft schweben, stellen fantastische Bezüge zur Gegenwart her. Ein Mix aus Traumwelt und Wirklichkeit.

Fazit: Der ganze Abend ist ein Spass - auch für das homogene Sänger-Ensemble. Selbst im Orchester darf unter der Leitung des Komponisten gelacht werden.

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Der Bund

14. 6. 2005 / Tobias Gerosa

Mit Witz und Schalk ins Märchenland
Opernhaus Zürich: Uraufführung der Märchenoper «der herr nordwind» von HK Gruber auf ein Libretto von H. C. Artmann

Uraufführungen sind rar am Opernhaus Zürich - «der herr nordwind» ist erst die dritte in 13 Jahren Intendanz Pereira. Die Musik des Wiener Komponisten, Chansonniers und Dirigenten HK Gruber bringt eine sehr gemässigte Moderne ins Opernhaus. In ihrer etwas skurrilen Spritzigkeit kam die Oper sehr gut an, auch dank der gelungen komödiantischen Inszenierung.

Der kalte Nordwind zerstört Bauer Geppone jährlich die Ernte. Als guter Untertan wandert er in den hohen Norden, um dem «herrn norrrdwind» (Oliver Widmer), wie er im Libretto des Wiener Lyrikers H. C. Artmann lautmalerisch mit drei r heisst, seine Not zu klagen. Das «Kästlein deck dich», das er bekommt, nimmt ihm die kirchliche Obrigkeit sofort ab, wie auch das zweite, das er darauf bei Nordwinds Frau Holla (der samtig singenden Judith Schmid) holt. Doch wies im Märchen geht: In bösen Händen verkehren sich Wunderdinge in ihr Gegenteil und fast, ja fast gäbe es ein Happyend.

Artmann schrieb das Libretto, die Bearbeitung eines toskanischen Märchens, als Auftrag des Wiener Karajan-Centrums für seinen Freund Gruber. Es wurde 2000 sein letztes Werk. Dieses Jahr ist es in einer sehr schönen Ausgabe beim Residenz-Verlag erschienen.

Sprrrachwitzz
Der Bauer und seine Frau - bei Alexander Kaimbacher und Sandra Trattnigg in besten Händen - sind echte Tölpel, unfähig zu einem rechten Reim; als schurkische, verfressene und bigotte Obrigkeit stehen Prior, Bischof und ihre Kirche (trotz Cornelia Kallisch und Reinhard Mayr) denkbar schlecht da. So drastisch Librettist, Komponist und Regisseur das zeigen: Im zwinglianischen Zürich amüsiert man sich, ohne sich besonders angesprochen zu fühlen.

Aber die schiefen oder bewusst holprigen Verse, in denen sich Fürst auf Würst’ oder Dachs auf Bonifaz reimen, das erfundene Schwedisch von Holla und Nordwind oder die sprachlich sorgsam unterschiedenen Schichten machen Spass und halten zusammen mit HK Grubers Musik die Komödie in Schwung. Die detailreiche Ausstattung (Renate Martin und Andreas Donhauser) mit tiefgefrorener Wäsche und Satellitenschüssel bei Geppones ärmlicher Hütte, Herrn Nordwinds Raumschiff oder der monsterhafte Tross des Bischofs (samt Gruber-Double) bieten dafür einen idealen Rahmen. Vielleicht wäre einem Nicht-Wiener als Regisseur Zuspitzenderes eingefallen als dem jungen Michael Sturminger. Dafür bringt er eine nie klamaukige Komödiantik ins Spiel, welche die Sprachakrobatik Artmanns und Grubers Musik bestens zur Geltung kommen lässt.

Eklektischer Mix
Diese beginnt singspielartig, mit viel gesprochenem Text. Anders als in Gruber/Artmanns «Frankenstein!!» von 1978 verzichtet Gruber bis auf Spieluhren und ohne Instrument geblasene Mundstücke auf exotisches Instrumentarium. Und doch erinnert die Musik immer wieder an dieses Erfolgsstück und an Grubers «Hausgötter» Weill und Eisler. Lautmalerisch wie der stets in aller Überdeutlichkeit artikulierte Text agiert oft auch die Musik. Wenn sie im zweiten Teil dichter und durchkomponiert wird, klingt sie in der (zu) langen Prügelszene und den grossen Ensembles sogar nach spätromantischer Oper. Immer wieder schlagen Tanzmuster à la Bernstein durch, lebt die Musik vom Rhythmus und ihrem eklektischen Witz.

Modern? Naja, aber fetzig und abwechslungsreich. Neu? Kaum, aber effektvoll und geistreich. Zeitgenössische Musik mache ja richtig Spass, meinte meine wenig opernkundige Begleitung am Schluss überrascht. Was kann man gegen diesen Effekt haben?

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Der Landbote

14. 6. 2005 / Herbert Büttiker

Klare Einsichten, schlechte Aussichten
Vom schlechten Lauf der Welt für den kleinen Mann erzählen H. C. Artmann und HK Gruber im Märchen «Der Herr Nordwind», das als grosse zeitgenössische Oper in Zürich uraufgeführt worden ist. Mit einhelligem Erfolg. Musik und Poesie haben scharfe Kanten, aber das Herz auf dem rechten Fleck.

Der Herr Nordwind ist zwar ein rauer Geselle. Geppone und seine Familie hungern, weil die scharfe Biese die Ernte zerstört. Aber aus dem Schneereich, in dem der Nordwind mit Holla haust, kommt auch Gutes. Geppone, der sich hinbemüht, um zu klagen, wird von der Fee herzlich und warm empfangen und erhält ein Zauberkästchen, das allen Hunger stillt. Nein, der Feind des Menschen, ist nicht die Natur, sondern der Mensch. Oder was sich so nennt: der Prior vom nahen Kloster regiert mit seinem Bauch, und die Freude der Armenhäusler an Fasan und Dauerwurst währt kurz.

«Geppone», das toskanische Märchen, das Artmann als Vorlage für das Libretto – das einzige des 2003 verstorbenen grossen österreichischen Dichters – benutzt hat, lässt dem Betrogenen den Sieg. Ein zweites Kästchen, dem mit Stöcken bewaffnete Kerle entspringen, setzt er klug gegen den Prior ins Werk, so dass dieser klein beigeben muss. Auch in der Oper beziehen die Würdenträger ihre Prügel am Ende des Fresskonzils, das der Prior für den Bischof veranstaltet. Aber das Kästchen bleibt in der Hand der Obrigkeit. Geppone wird nicht ein grosser Herr, sondern bereitet sich aufs neue auf eine Wanderung in den Norden vor. «nicht nie, nicht na, nicht nörder, der bischof ist der mörder», sagt er. Artmanns Poesie ist Klangspiel und Klartext zugleich, und als Moral von der Geschichte bleibt Geppones nestroyanisches Wort in Erinnerung: «die Einsicht hätt ich wohl, allein, es hapert mit der aussicht».

Musikalisches Crescendo
Aber vor der Moral kommt bei Artmann das Essen und das Fressen. Seine Verse kreisen um das Elementare, die Reime schiessen ins Kraut bei der Hungerfamilie wie bei der Bischofsvöllerei, hier dadaistisch-satirisch, dort eher im Ton der volkstümlichen Ballade und Trivialpoesie. Dass der Universalpoet darüber hinaus Herrn Nordwind und Frau Holla in einem Pseudoskandinavisch ganz Unverständliches singen lässt, ist mehr als reines Sprachspiel. Das ist im oratorischen Schluss der Oper zu spüren: Das grosse Rätsel Welt, dazu im Orchester das ewige Geklingel der Spieluhr, dazwischen das «mama, wir verhungern» der Kinder – Artmanns Text, der in seiner gekonnten Quacksalberei klangreich für sich selber spricht, erhält hier ein musikalisches Crescendo ins Unabsehbare, und Hut ab vor dem Komponisten, der sein musikalisches Tun in dieser Weise ins Grosse und Offene münden lassen kann.

Zunächst nimmt sich HK Grubers Musik aber vor allem zurück. Der 1943 geborene Wiener, dem der Zusammenklang von zeitgenössischer Musik und Publikumserfolg ein Anliegen ist – das ihm immer wieder gelingt, wie etwa sein tausendfach gespielter «Frankenstein !!» belegt –, ist als Komponist, Dirigent, Chansonnier und Kontrabassist kein Avantgardist im Elfenbeinturm. Auch in Zürich steht er jetzt am Pult – und ist zuerst als Sprecher zu hören. Der orchestrale Aufwand ist dann zwar gross – Schlag- und Geräuschinstrumente, Xylo- und Marimbaphon, Blechbläser dominieren –, aber viele Passagen sind dem gesprochenen Wort vorbehalten, und der Gesang ist über weite Strecken deklamatorisch. Lyrische Weiten gibt es für Hollas «nordische Weise» und Annas Klagen, aber auch für Bläser: Das Blech hat nicht nur mit dem Nordwind zu lärmen, zu hören sind auch ein bluesiges Saxophon, das Lamento der Posaune. Allzu sehr schmeichelt dies alles dem Ohr nicht und das grundsätzlich tonale Komponieren ist voller Kanten und Härten – in den Ensembles manchmal auch von ermüdender Statik. Im grosse Bogen vom gesprochenen Anfang bis zum oratorischen Schluss entwickelt die Musik zunehmend Sog, und mit Effekten für den Moment, mit Klangmalerei, mit Glissandi und Windmaschine, mit Jazz-Rhythmik, Schnarchmusik und Wimmergesang geizt sie ohnehin nicht. Im Trivialen tut sie freilich – trotz Artmanns unverschämter Reimerei – eher vornehm, doch folgt sie dem Text farbig, derb und fein genug – und haucht so den Figuren musikalisches Leben ein.

Satire und Erbarmen
Da gibt es die wunderbaren Karikaturen: Cornelia Kallischs bigotten und fresslustigen Prior, der mit rauem Alt und umgehängter Leibesfülle sperbernd um Geppones Haus wandelt; Volker Vogels Köchin, die ebenfalls falsch gepolt und kolossal aufgerundet beim Fresskonzil aufwartet; eine ganze Reihe frommer Herren, die den Baldachin des Bischofs und dazu unter der Kutte Sturmgewehr und Flachmann tragen; den Bischof selber, dessen kirchliches Kauderwelsch Reinhard Mayr mit würdevollem Bass vorträgt. Nicht nur Karikatur, auch ein Jammerbild ist Peter Kellers Kaplan, der mit echtem Schmerz in der Kehle hungrig zu unterst an der grossen Tafel sitzt: im Palast ein Mann der Hütte.

Dort gibt es drei Kinder, die den Hunger im Schlaf vergessen, aber sonst hell wach sind: für drei vife Sängerinnen vom Opernstudio nicht nur eine musikalisch anspruchsvolle Ensembleaufgabe: Federball Spielen und Schneemann Bauen kommen hinzu – Zeichen, die in aller Burleske das einfache Leben bedeuten. Urbilder sind auch die Eltern: Geppone, der sich abmüht, mit ungebrochenem Elan, und auch im Lebensgenuss (bei Frau Holla) unkompliziert, Anna in ständiger Sorge und auch voller Selbstvorwürfe, weil sie auf das Zauberkästlein nicht besser aufgepasst hat. Alexander Kaimbacher gibt den Mann mit unermüdlichem Einsatz und hat da und dort Gelegenheit, neben den kämpferischen auch die feinen Facetten seines Tenors einzusetzten. Berührend aber vor allem Sandra Trattnigg als seine Frau Anna mit innig zentriertem Sopran.

Bilderbuch-Spektakel
Für Geppones Familie haben die Ausstatter Renate Martin und Andreas Donhauser eine schäbig zusammengezimmerte Hütte auf die Bühne gestellt, auch Hänsel-und-Gretels könnten dort wohnen. Fernsehschüssel und Kühlschrank erinnern ein wenig daran, dass die Behausung statt im Wald auch in einem Slum stehen könnte, was Geppones Aufbruch in den Norden in einen anderen Zusammenhang rücken würde. Aber das Inszenierungsteam unter der Leitung von Michael Sturminger bleibt im Märchenland und gönnt auch dem unbeschwerten Klamauk das Recht. Das zeigt sich in der pittoresken Wohnstätte des Nordwindes, die, von Kristallgebilden, Raumfahrttechnik oder einem dampfenden Bügeleisen inspiriert, im Bühnenraum schwebt. Als wilder Geselle gibt hier Oliver Widmer mit wetterfesten Baritonressourcen den Ton an, Judith Schmid sekundiert ihn mit sinnlichem Mezzosopran – verführerisch im Monroe-Look und umgeben vom Revuekitsch der Schneeflockengirls. Videoprojektion (Timo Schüssel), Lichtgestaltung (Jürgen Hoffmann) und jede Menge Schnee und Dampf von der Bühnentechnik sorgen dafür, dass es ordentlich stürmt und schneit und dass die deftige Kleriker-Satire ins grelle Licht rückt. Die alles fügt sich von leichter Hand zur Bühnenschau, als die der Abend allein schon eine Attraktion ist – für Jung und Alt.

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Neue Luzerner Zeitung

14. 6. 2005 / Urs Mattenberger

Herzhaft auf das Weib gespuckt
Die Konsonanten sollten explodieren wie Handgranaten. Aber bei der Uraufführung von H. K. Grubers «Nordwind»-Oper blieben alle Provokationen aus.

Wer in der Oper immer schon die «Worrrrtdeutlichkeit» vermisste, kommt jetzt in Zürich ausgerechnet in einer Uraufführung auf seine Rechnung. Denn der mit seiner Chanson-Oper «Frankenstein!!» bekannt gewordene österreichische Komponist H. K. Gruber schrieb mit «Der Herr Nordwind» ein Werk, das seinen elementaren Impuls aus der Sprache bezieht: einem Text von H. C. Artmann, der ein italienisches Märchen verarbeitet.

Darin lässt Gruber, nach eigenen Worten, um helle Vokale herum die rrrrrs rollen wie «Rasenmäher» und die Konsonanten «platzen wie Handgranaten», damit der Text grösstmögliche Plastizität gewinnt.

Die Musik, die schamlos Tonalität, serielle Techniken, Folklore-Elemente und einen grossen, auch mal arios entfalteten Opernton zu einem brodelnden Kaleidoskop vermischt, trägt ihrerseits der Wortverständlichkeit Rechnung.

Avantgarde-Schreck
Davon hätte man sich von der Zürcher Uraufführung am Sonntag eigentlich eine erfrischend freche Provokation erwarten können. Aber trotz grossen Worten im Vorfeld war im gut gelaunt applaudierenden Premierenpublikum offensichtlich niemand erschreckt. Denn Gruber verkörpert den Gegentypus zum klassischen Bürgerschreck. Als Komponist, der sich keinen Deut um kompositorische Modeströmungen kümmerte, erfand er quasi den Künstler-Typus des Avantgarde-Schrecks, der gegen das «arrogante Verhalten der Avantgarde-Priester» Sturm lief.

In den Sechzigerjahren, in denen unter dem Diktat der postseriellen Musik Tonalität als verpönt galt, war Grubers Haltung in der Tat anstössig und progressiv. Aber seit die Postmoderne mit derlei Avantgarde-Dogmen aufgeräumt hat, wirkt Grubers Widerstandspathos seinerseits wie ein historisches Relikt. Und seine Musik muss ganz ohne den einstigen Provokationsbonus bestehen können.

Prasserei im Kloster
Die Uraufführung zeigte, dass sie das nur bedingt kann. Schon die Wahl des Märchenstoffes lässt aktuelle Bezüge weit gehend vermissen. Dabei böte die Geschichte solche durchaus. Der Nordwind, der dem Bauern Geppone regelmässig die Ernte verdirbt und so seine Familie in Hunger stürzt, entschädigt ihn mit einem Tischlein-deckdich-Zauberkästchen. Als dieses vom Dorfpriester als Teufelswerk beschlagnahmt und für eine Prasserei im Kloster missbraucht wird, entspringt dem Kästlein ein Schlägertrupp, der in Zeitlupen-Action aus der Priestertafel Kleinholz macht.

Eine aus den Fugen geratene Natur, vermischt mit Sozial- und Kirchenkritik: Beides wirkt nur liebenswürdig, weil auch die Inszenierung von Michael Stürminger eher die märchenhaften als die sozialkritischen Züge verstärkt.

Die Ausstattung von Renate Martin und Andreas Donhauser beschränkt sich auf Arme-Leute-Klischees in der Bauernhütte und steifen Kirchenpomp im Schlussbild. Originell sind die Nordwind-Szenen, die mit einer schwebenden Eiswolke stimmungsvolles Bühnenspektakel bieten. Dass die Frau des Nordwinds hier den Bauern Geppone verführt, während dessen eigene Frau das Geheimnis des Zauberkästchens an die Kirchenvertreter ausplaudert, macht deutlich, wie sehr das Werk mit herkömmlichen Klischees operiert.

Priesterliche Eiseskälte
Trotz geheimnisvoller Klang- und Sturmbilder (Licht: Jürgen Hoffmann), gellend groovenden Orchestersätzen (das Opernorchester unter der Leitung des Komponisten), Buffo-Komödiantik und einem Gesang, der mitunter durch süffigen Wohlklang betört, bleibt das Werk damit harmlos gegenüber den Erwartungen, die der opernhafte Grossaufwand weckt.

Dass hier auch symbolisch keinerlei Handgranaten explodieren, liegt jedenfalls nicht am vorzüglichen Sänger-Ensemble. Dieses bringt nicht nur die mitunter belcantistischen Anklänge in Grubers Musik zur Geltung (mit schlankem Wohllaut: Judith Schmid als Holla und Sandra Trattnig als Anna). Alexander Kaimbacher als rührseliger Geppone oder Oliver Widmer als statuenhafter Herr Nordwind spucken wenigstens das Wort «Weib» so aus, dass man noch im ersten Rang feucht zu werden droht. Wirkungsmässig bleibt aber auch das hinter der Eiseskälte zurück, mit der Cornelia Kallisch den Prior gibt: Ihre Stimme ist es, die dieses kunterbunte Märchen plötzlich so scharf macht wie ein Messer.

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Neue Zürcher Zeitung

14. 6. 2005 / Alfred Zimmerlin

Von Frau Holla zum Göttersturz
«Der Herr Nordwind» von Artmann und Gruber - Uraufführung im Opernhaus Zürich

Ja, das ist ein Opernstoff, das toskanische Märchen vom armen Bauern Geppone, der den Herrn Nordwind anklagt, ihm und seiner Familie Jahr für Jahr durch Zerstörung der Ernte Hunger zu bescheren. Es ist ein Opernstoff, weil der Textdichter, der Wiener H. C. Artmann (1921-2000), und der Komponist, HK Gruber (geb. 1943), weit über das eigentlich Märchenhafte hinausgehen. «Der Herr Nordwind» heisst das im Auftrag des Herbert-von-Karajan-Centrums Wien entstandene Werk, das im Opernhaus Zürich uraufgeführt worden ist. Artmann hat das Libretto noch kurz vor seinem Tod als sein letztes Werk verfassen können.

Sprachliche Versuchsanordnung
Das Märchen wird gleichsam zur sprachlichen Versuchsanordnung, denn mit unterschiedlichen Materialien - von der Barockdichtung über Wortschöpfungen à la Arno Holz, Moritatendichtung, Volkstheater und eine dem Altnordischen nachempfundene Kunstsprache - wird gearbeitet. Es ist eine sowohl musikalische als auch inhaltliche Spracharbeit, die der Dichter leistet. HK Gruber geht zunächst ganz darauf ein, lässt die Wortkaskaden klingen, ohne sein kräftig geführtes, phantasievoll eingesetztes Orchester davon in die Rolle einer blossen Begleitung drängen zu lassen. Je länger das Werk dauert, desto mehr ist es die Musik, welche den Inhalt des Textes in weitere Dimensionen ausweitet.

«Der Herr Nordwind» beginnt wie ein moralisches Märchen, wienerisch, mit schwarzem Humor. Der arme Bauer geht zum Nordwind und zu dessen Frau Holla und erhält ein silbernes Kästchen, das als «Tischleindeckdich» funktioniert. Doch die Geistlichkeit in Gestalt des Priors - auch das ein typisch österreichischer Klerus - beschlagnahmt das Hexending, um es sich selber dienstbar zu machen. Schlagartig wird klar, dass der Stoff auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung enthält: die zwischen dem Paganen, verkörpert durch Nordwind und Holla, und der neuen Religion, welche sich der heidnischen Elemente bemächtigt. Auch das zweite, nun goldene Kästchen wird der Familie weggenommen. Der Prior will damit den Bischof bewirten, doch löst die unsachgemässe Anwendung das Auftauchen von vier Baseball-Spielern aus, welche die Kleriker-Bande nach Strich und Faden verprügeln.

Spätestens hier - und da geht Gruber über das Libretto hinaus - wird die Oper zum Weltuntergang. Der Bischof lallt, der Prior ruft Geppone zu Hilfe, Wagnertuben vibrieren, und in einem grandiosen Orchesterzwischenspiel bricht gleichsam alles zusammen. Die alten Götter singen die «Moral» in ihrem unverständlichen «Nordisch», während die Bauernfamilie weiter Hunger leidet. Unmissverständlich läutet die Musik den Sturz sowohl des Paganen als auch des Klerus ein. So wird, was als Märchenoper begann, unversehens zur Götterdämmerung.

Die Inszenierung von Michael Sturminger und das Bühnenbild von Renate Martin und Andreas Dornhauser mit unaufdringlichen Videoprojektionen von Timo Schlüssel gehen diesen Weg mit. Mobile Elemente halten die Bühne variabel. Die ärmliche Hütte, fahr- und drehbar, ist liebevoll mit neckischen Details ausgestattet. Da fehlen weder Bügeleisen, Kühlschrank, Wäscheständer noch Satelliten-TV. Vom Himmel wird - in Theaternebel eingehüllt - das Schloss von Nordwind und seiner erotischen Holla heruntergelassen. Das Refektorium des Priors ist eine Abendmahl- Parodie, running gags, wie die Bierdose, die der als Rocker auftretende Nordwind sich schnappt, oder das an Jules Verne gemahnende Flugobjekt, in welchem er sich fortbewegt, beleben die Szene. Was Artmann und Gruber mit erstaunlichem Ernst vermeiden, das Operettenhafte, holen Inszenierung und Bühnenbild wieder herein und treiben das Bühnengeschehen in die Nähe des Volkstheaters. Die Kurve zur Götterdämmerungs- Parodie erwischen sie aber mit Präzision und verstehen es, die Doppelbödigkeit des Stücks zu zeigen, indem sie die Figuren mehr und mehr weg vom Schwank führen.

Dass die Inszenierung funktioniert, ist aber auch den exzellent agierenden Darstellerinnen und Darstellern zu verdanken. Oliver Widmer als Herr Nordwind ist sängerisch und schauspielerisch brillant und sicher, Frau Holla wird von Judith Schmid verführerisch gegeben, Alexander Kaimbacher als Geppone hat einen grossen Abend. Sandra Tattnigg als seine Frau Anna kann ihre farbige und flexible Stimme eindringlich wirken lassen, Cornelia Kallisch bringt die Verlogenheit und Hinterlist des Priors - eine Hosenrolle - fabelhaft zur Geltung, und die «Rockrolle» der Köchin des Priors kann man sich nicht besser gespielt denken, als dies Volker Vogel tut. Das Orchester unter der Leitung des leidenschaftlich anfeuernden Komponisten kommt ganz schön in Fahrt - da hätte von Seiten des Dirigenten manchmal eine etwas bessere Kontrolle der Klangbalance gut getan.

Vielschichtige Musik
Zu hören ist eine bemerkenswert vielschichtige Musik. Wenn Gruber klangmalerisch wird und den Nordwind blasen lässt, tut er dies mit einer phantasievollen Instrumentationskunst. Tonale Elemente stehen neben komplexen Klangballungen, doch wird das Ganze durch eine packende Dramaturgie zusammengehalten, ist immer verständlich, nie platt. Nur an wenigen Stellen hat man das Gefühl, dass Gruber sich etwas gar ausbreitet. - Ja, das ist eine Möglichkeit, zeitgenössische Oper zu machen. Eine Oper, die nicht versucht, die Gattung neu zu erfinden, und mit den Gegebenheiten der Tradition subtil umgeht, die aber doch ganz in unserer mitunter seltsamen Gegenwart steht. Auf urwienerische Weise.

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Die Südostschweiz

14. 6. 2005 / Reinmar Wagner

Lyrismus statt Aberglauben
Mit «Der Herr Nordwind» tritt das Opernhaus Zürich eine poetische Reise an

«Der Herrrr Norrrdwind» sollte das Stück zuerst heissen. Die normale Schreibweise ist übrig geblieben. Aber sonst ist nicht viel normal an der Oper einer virtuosen Österreich-Connection, die am Sonntag in Zürich uraufgeführt wurde.

Das Unnormalste daran für eine zeitgenössische Oper: Sie ist lustig, sie hat Witz, und das auf einem hohen, durchaus doppelbödigen Niveau. Das Libretto von H. C. Artmann, dem österreichischen Sprachakrobaten, der 2001 starb, strotzt vor Assonanzen und Kalauern, vor brachial herbeigezwungenen Reimen und hinreissend humpelnden Versmassen.

Kaum ein Satz, dem nicht auf irgendeine Weise vorder- oder hintergründiger Witz innewohnen würde. Kaum ein Satz, der nicht schon allein von seiner Sprache her ein Kunstwerk aus Melodie und Rhythmus wäre. Ein schlicht geniales Libretto, das den Komponisten vor ein schier unlösbares Dilemma stellt: Es ist selbst schon pure Musik, was will da ein Tonschöpfer noch machen?

Sprache eines Versakrobaten
Bei der Oper «Der Herr Nordwind», einem Auftragswerk des Wiener Karajan-Centrums, war der Komponist allerdings nicht irgendeiner – was bestimmt nicht funktioniert hätte. Es war ein veritabler Artmann-Jünger, der mit riesigem Respekt an dieses Dichter-Vermächtnis, Artmanns letztes Werk, herangegangen ist: HK Gruber, mit bürgerlichem Namen Heinz Karl, den sie in Wien nur «Nali» nennen, war ein Künstlerfreund Artmanns, und er hat seinen Respekt vor dessen Sprach-Virtuosität mitvertont, wie schon in seinem «Frankenstein!!», einem Konzertstück über Kinderreime nicht nur für Kinder, das höchst virtuos mit Spielzeuginstrumenten spielt und zu einem der meistgespielten zeitgenössischen Stücke geworden ist.

Das heisst nun für Grubers Oper, dass nichts von den doppelschneidigen Artmann-Versen verloren geht, dass man mit fast jedem Takt von neuem immer wieder auf die Sprache dieses Versakrobaten gestossen wird, dessen Markenzeichen das grollend-rollende R ist. Aber auch die anderen Laute werden laufend zu kalauernden Gruppen formiert. Ein Theater der Vokale und Konsonanten, die sich balgen, mit allen Mitteln um Aufmerksamkeit ringen, und sie auch erhalten.

Die Musik von Gruber ist genauso vielschichtig wie der Text: Sie setzt vordergründig starke, handfeste, burschikose Akzente, freut sich an Windmaschine und Donnerblech, zeichnet mit allen Ausdrucksmitteln die witzigen Handlungslinien dieses vordergründig simplen, am Schluss jedoch offenen Märchens nach. Aber sie kennt auch lyrische Ruhepunkte, am bezwingendsten in der Arie der Mutter, die wohl als die «schönste» Arie in der Oper der letzten zehn Jahre gelten darf: Pure Lyrik und verströmende Melodik, herausragend gesungen von der jungen Sopranistin Sandra Trattnig – natürlich auch sie aus Österreich. Immer wieder setzt Gruber mit solchen Ruhepunkten Pausen ins turbulente Geschehen, auch orchestrale, wenn Soloinstrumente ihre schwerelosen Linien ziehen.

Dazwischen bleibt das Orchester sparsam, oft solistisch besetzt, hält einen rhythmischen Grundpuls durch, der die Handlung vorantreibt, und setzt hin und wieder überaus kräftige Akzente, spielt auch öfters mit Effekten und Klangfarben, etwa für die Auftritte des Nordwinds. Und zwischendurch und vor allem am Ende wird das Orchester zum Träger der Handlung, erzählt von den unsichtbaren Dingen, von der Moral dieser Fabel, die über das Happy End des Märchens weit hinausreicht.

Gegen die Mächtigen der Welt
So kräftig wie Grubers Musik ist die Zürcher Inszenierung von Michael Sturminger. Er macht die Gesellschaftskritik des Stücks, in dessen Entstehungsprozess er schon einbezogen wurde, klar und deutlich. Sie trifft alle Mächtigen dieser Welt. Die Kirche ist bloss eine Chiffre für die Mächtigen, die die Fäden in den Händen halten, die die Kalaschnikow unter dem Mönchskittel tragen oder die Banknotenkoffer unter der Maske des Biedermanns.

Hütet Euch vor Aberglauben, heisst der zentrale Satz des Stücks, der zwar in einem kryptischen, lautmalerischen Pseudoschwedisch (die Sprache des Nordwinds und seiner hinreissenden Gattin Holla) daherkommt, aber dennoch klar wird: Ausbeutung funktioniert immer und überall; selbst wundertätige Hexenkünstler können diese Ordnung nicht umstossen. Und das nicht, weil sie dafür zu wenig Macht haben, sondern weil die Ausgebeuteten selbst ihre unverhofften Vorteile nicht nachhaltig zu nützen wissen.

Das Zürcher Opernhaus stellte für diese Uraufführung ein tolles Ensemble. Herausragend neben der Mutter sang der Geppone vom jungen Österreicher Alexander Kaimbacher. Auch Judith Schmid und Oliver Widmer als Nordwind-Pärchen und Cornelia Kallisch als Prior überzeugten, so wie sich schliesslich das ganze Ensemble mit vielen Verstärkungen aus dem Opernstudio auf der Höhe seiner Aufgaben zeigte und auch darstellerisch in der herausragenden Personenführung von Sturminger bestach.

Für Kinder und Erwachsene
An der Premiere haben im Orchester noch die einen oder anderen Rhythmen etwas gewackelt, Kinderkrankheiten, die bald ausgefeilt werden dürften. Ein Kinderstück übrigens sollte es zuerst werden. Man ist von dieser Bezeichnung abgekommen, aus Angst vor der Kanalisierung der Ansprüche, die damit in die Wege geleitet würde. Aber es ist durchaus auch ein Kinderstück geworden, eines, das – ähnlich wie die «Zauberflöte», die hin und wieder als Parallele spürbar wird – sowohl die Fantasien der Kinder wie den Intellekt der Erwachsenen anregt. Besseres kann einer neuen Oper wohl nicht passieren. Pardon: Passsierrrennn!

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Tages-Anzeiger

14. 6. 2005 / Susanne Kübler

Würste und Wein und Hochdruck-Musik
Die Uraufführung von HK Grubers Oper «Der Herr Nordwind» wehte am Sonntag als ziemlich laues Lüftchen durch das Zürcher Opernhaus.

Am Ende bleibt alles beim Alten. Der Herr Nordwind bedient die Windmaschine, sein Frau Holla lässt es schneien, und der arme Geppone macht sich wieder einmal auf in die Kälte, um den beiden ein Zauberkästchen mit Würsten und Wein à discrétion abzubetteln. Er wird es zweifellos bekommen, seine Performance auf dem Eisbärenfell sagt Frau Holla zu, und er wird es zweifellos wieder an irgendeinen Prior oder Bischof verlieren, dem der eigene Bauch näher ist als der seiner Lehensleute. Auch die Musik dreht sich im Kreis in dieser letzten Szene, wiederholt in fast minimalistischer Manier die immer gleichen Muster und könnte so allmählich auslaufen - wenn nicht eine saftige Kadenz den Abend beenden würde: inhaltlich unsinnig, musikalisch unmotiviert, aber dafür effektvoll.

Der Schluss ist typisch für das ganze Werk. Die Musik steht sich selbst im Weg in dieser dritten Oper des 62-jährigen Wieners HK Gruber: Wo immer rhythmischer Drive aufkommt, tritt der Komponist gleich mit Gegenakzenten auf die Bremse, gepfefferte Passagen werden in viel Sauce eingelegt. So ist etwa das Wandbild, das in Pop-Art-Manier das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle in ein Schlaraffenland verwandelt, schlicht hinreissend, und Cornelia Kallisch, die sich davor als heuchlerischer Prior auf das «Fresskonzil» freut, ist es ebenso. Aber die folgende Klerusschelte mit länglichem Ensemble und oft gehörten Witzen nimmt der Szene jeden Biss.

«Fesche Schneefee»
«Der Herr Nordwind» ist eine Enttäuschung, nicht zuletzt deshalb, weil die Erwartungen hoch sein durften. An HK Gruber, der den Musikbetrieb einst mit erfrischender Respektlosigkeit und handwerklichem Geschick aufgemischt hat; an den Librettisten H. C. Artmann, der ein Wortmusiker erster Güte war; an die Zusammenarbeit der beiden, die an Grubers 1978er-Hit «Frankenstein!!» nach Artmann-Texten hätte anknüpfen können; an einen Märchenstoff, der diesem Autorenteam eigentlich liegen musste; an eine Aufführung schliesslich, deren Regisseur Michael Sturminger schon in der Konzeptionsphase des Werks involviert war.

Dass die guten Voraussetzungen nur in einzelnen Momenten zum Erfolg führten, hat verschiedene Gründe. Achtlosigkeit oder Lieblosigkeit sind nicht darunter, im Gegenteil. Sturminger und seine Ausstatter Renate Martin und Andreas Dornhauser haben aus dem Stück herausgeholt, was herauszuholen ist; sie zeigen eine löchrige Hütte für Geppone, eine eisig glitzernde Koje für die Nordwinds, und immer wieder weisen sie mit zauberhaften Stilbrüchen darauf hin, dass dieses Märchen eines von heute ist. Auch HK Gruber hat es sich nicht einfach gemacht und tatsächlich jedes Wort Artmanns «abgeschmeckt bis in die verborgensten akustischen Winkel» (TA vom 10. 6.).

Genau hier allerdings beginnt die Schwierigkeit: Singen braucht mehr Zeit als Sprechen, und Artmanns Text ist nicht einer, der eine Verlangsamung ertragen würde. Zwar gibt es pfiffige Reime und witzige Bilder in diesem seinem einzigen Opernlibretto, das auch seine letzte Arbeit vor seinem Tod im Jahr 2000 war - etwa wenn Frau Holla als «fesche Schneefee» besungen wird. Anderes aber wirkt ziemlich abgegriffen. In der Oper wiederum sind verlangsamende Repetitionen, wie sie zu Märchen gehören, schwierig umzusetzen. Gruber weiss das, er hat beispielsweise den zweiten Bettelgang des Geppone gegenüber dem ersten stark und mit einigem Sinn für Ironie gerafft; aber den Spannungsabfall insbesondere im ersten Teil des zweistündigen Abends kann er damit nicht verhindern.

Auch nicht damit, dass er musikalisch fast ständig aus dem Vollen schöpft: Die detaillierte Wortgestaltung, die ein Artmann-Text verlangt, wirkt auf die Dauer ermüdend, und der Hochdruck, unter dem das Orchester der Oper unter der Leitung des Komponisten fast unablässig steht, ebenso. Auch hier: Es gibt musikalisch starke Partien, die Klanglichkeit ist von der Ouvertüre weg oft fantasievoll, in liedhaften Stellen (etwa im «heut koch ich nicht, heut brat ich nicht» von Geppones Frau Anna) findet Gruber einen schlichten und doch nie banalen Ton, die Übergänge zwischen Sprechen und Singen sitzen, und die überdrehten Kantilenen des Geppone können ergreifend komisch sein.

Die Ensembles dagegen, auch die komplexeren Orchesterteile, verrennen sich immer wieder in Floskelhaftem - oder versinken im Rauschen der Windmaschine. Und selbst der Stilmix, Grubers viel gelobte Spezialität, wirkt braver als auch schon. Der Rap des Herrn Nordwind zum Beispiel klingt allenfalls so, wie ein Opernpublikum sich einen Rap vorstellen mag.

Konsonanten spucken
Dafür kann der Herr Nordwind nichts, der von Oliver Widmer in Rockerattitüde und mit eisigem Bariton gegeben wird. Auch Judith Schmid als Frau Holla glänzt nicht nur wegen ihres wunderschönen Glitzerkostüms. Sandra Trattnigg als Anna und Alexander Kaimbacher als Geppone zeigen die Naivität und Verzweiflung ihrer Figuren mit klanglicher Leichtigkeit und komödiantischer Verve. Auch die Nebenrollen sind stark besetzt: Peter Keller sucht als Kaplan einen tiefen Ton auch mal unter dem Tisch, Reinhard Mayr gibt einen penetrant salbungsvollen Bischof. Und dann ist da noch Volker Vogel, der singt und geht, wie eine dicke, klatschsüchtige Köchin des Priors eben zu singen und zu gehen hat. Aufgeregt wuselt er/sie gegen Ende durch den Tumult, als das Kästchen statt Wurst und Wein vier Baseballspieler hervorbringt, die die heiligen Herren mit ihren Schlägern traktieren. Sie tun es in einer Zeitlupe, die wegen der nicht allzu sorgfältigen Choreografie (Christoph Herren) bloss langsam wirkt, zu einer Musik, in der es blitzt und donnert - und die doch kaum Tempo entwickelt.

Es fehlt die Schärfe in dieser Szene und überhaupt in diesem Stück. Und es fehlt bei allem Respekt vor den mehr als einwandfreien sängerischen und schauspielerischen Leistungen auch HK Gruber selbst: als Sänger, als Chansonnier, als Deklamationskünstler. Wenn andere nach seinem Vorbild rrr's rollen und Konsonanten spucken, wirkt es schnell einmal manieriert. So ist das alles nur ein bisschen frech, ein bisschen schräg, ein bisschen lustig. Und ganz im Einklang mit der Programmpolitik des Zürcher Opernhauses exakt so modern, dass das Premierenpublikum gerade noch herzhaft zu applaudieren vermochte.

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Zürcher Oberländer

14. 6. 2005 / Sibylle Ehrismann

Modernes Märchen mit Musik-Mix
Gelungene Uraufführung von HK Grubers Oper «Der Herr Nordwind» im Opernhaus in Zürich

Modernes Musiktheater ist nicht gerade ein Steckenpferd von Alexander Pereira. Im Rahmen der Zürcher Festspiele aber hat er nun wieder einmal eine Uraufführung gewagt. Der international geschätzte Wiener Komponist und Dirigent HK Gruber stellte am Sonntag in Zürich als Dirigent sein neustes Werk vor: die Oper in zwei Teilen «Der Herr Nordwind» auf ein raffiniert pointiertes Libretto von H. C. Artmann. Das Publikum kam und harrte nicht nur aus; es amüsierte sich mit und spendete begeisterten Applaus.

«Die Musik beginnt mit dem Sprechen.» Dieses Motto von HK Gruber zieht sich durch die ganze Oper «Der Herr Nordwind»: es wird von den Sängern überdurchschnittlich viel gesprochen, die Übergänge vom Sprechen zum Singen sind fliessend, und die musikalische Textur passt sich auch im Orchester dem Rhythmus der Worte an und kostet deren Klang samt «Pseudo»-Bedeutung vielschichtig aus.

Das Libretto - ein Geniestreich
Dieser sensible Sprachsinn des Komponisten ist auch für den Librettisten eine besondere Herausforderung. Der während der Arbeit an diesem Libretto verstorbene Dichter H. C. Artmann ist bekannt für seine Sprach-Kunst im Bereich des Wiener Dialekts, des Surrealen und des klanglich Erfinderischen. Mit der Umarbeitung des toskanischen Märchens «Der Herr Nordwind» zu einem modernen Libretto ist ihm ein Geniestreich gelungen. Allein schon die Dramaturgie hebt das Märchen und sein Happyend geschickt ins Reale: statt der stringenten Entwicklung der Geschichte wird das Libretto zyklisch als Rondo angelegt, und statt des guten Endes nimmt das Rondo und damit das «Allzumenschliche» seinen unerbittlichen Lauf.

Volksmärchen-Moral bleibt
Die einfache Volksmärchen-Moral bleibt jedoch, und die einfache, aber sehr konzentrierte und pointierte Sprechweise auch. Die Geschichte dreht sich um den armen Bauern Geppone, welchem der raue Nordwind die Ernte zerstört. Seine Familie lebt in einer einfachen, ja schäbigen Hütte, und sie hungert. Geppone macht sich deshalb auf, um mit dem Herrn Nordwind zu sprechen. Dessen Frau Holla ist die Sanftmut und die Schönheit in Person. Sie hat Mitleid und gibt dem Bauern ein Wunderkästlein, aus dem man Speisen holen kann, wenn man wirklich Hunger hat.

Geppone ist überglücklich, kehrt nach Hause zurück und kann seiner Familie endlich genug Essen bieten. Doch der Pfaffe im Ort, der Prior, riecht beim Vorbeigehen das gute Essen, wird neugierig und luchst der Frau von Geppone das Silberkästlein ab. Die Not kehrt zurück in die Hütte, Geppone macht sich erneut auf den Weg zum Nordwind, und erhält diesmal ein goldenes Kästlein. Doch auch dieses gerät in die Hände der Priors, der jedoch nicht mit dem wütenden «Nordwind» gerechnet hat ...

Rappender Herr Nordwind
Artmann spielt dichterisch mit verschiedenen Elementen und Stilen; es verschmelzen nordische Mythen, barockes Sprachgepränge, Wiener Mundart und Pseudoschwedisches zu einem raffinierten Text, der die Musik frei lässt und sie doch inspiriert. Auch der Komponist HK Gruber spielt mit den Stilen und stellt den «Buffa»-Ton neben grosse Oper, Tonales verbindet er mit Seriellem, Rap mit Zwölftontechnik und nordische Folklore mit dem Madrigal. Und er wählt diese Stile sehr präzise auf die Szene hin aus.

So beginnt der Nordwind - von Oliver Widmer mit mächtiger Statur und natürlicher Bühnenpräsenz gespielt - plötzlich zu rappen, weil er sich gerade in Schwung fühlt. Seine kühle, immer aus den Bettkissen schneiende Frau Holla gibt Judith Schmid mit klarer, lichter Stimme und kühlem Sexappeal. Daneben gibt es aber auch die warmen, innigen Arien von Geppones Ehefrau Anna, von Sandra Trattnigg hochmusikalisch gesungen und rührend gespielt.

Bei all den Stereotypien dieser Geschichte wird die Doppelbödigkeit musikalisch und szenisch deutlich, aber nie aufdringlich ausgespielt. Michael Sturminger inszeniert mit heiteren «Deus ex machina»-Effekten: Die kühle Luxuswelt des Nordwinds schwebt in der wirkungsvollen Austattung von Renate Martin und Andreas Dornhauser wie eine Schaukel über dem Boden, und der Nordwind und seine Schläger fliegen mit Wundermaschinen durch die Lüfte.

Der Kontrast dazu ist die ärmliche Hütte, extrem eng für die drei Kinder und die Eltern, die alle in einem Bett schlafen. Und schliesslich noch der Prunk bei der Völlerei der Geistlichen: Dafür gibt es riesige Stühle und Tische, die schliesslich von den Schlägertypen umgestossen werden: Die Prügelei findet im Zeitraffer statt, ganz genau in die musikalisch-rhythmische Struktur hineinchoreografiert.

Überdeutliche Sprache und voller Körpereinsatz
Entsprechend agil und schauspielerisch versiert müssen die Protagonisten sein. Alexander Kaimbacher wird als Geppone enorm gefordert, spricht mit vom Komponisten verlangter, überdeutlicher Aussprache und spielt mit vollem Körpereinsatz. Dass er dabei auch sängerisch und vor allem rhythmisch hoch konzentriert und präzise agieren kann, ist bewundernswert. Auch die drei Kinder (Cassandra McConnell, Christine Zoller und Franziska Rabl), die mit ihren kurzen Einwürfen rhythmisch extrem agil sein müssen, leisten Beachtliches.

Das Doppelbödige kommt vor allem bei den Geistlichen zum Tragen. Cornelia Kallisch weiss dem Prior eine gemeine und überhebliche Postur zu verleihen, ohne dabei den Humor zu verlieren. Und Volker Vogel wirkt als des Priors Köchin mit markanter Bühnenpräsenz zum Lachen komisch. In den beiden kleineren Rollen des Bischofs und des Kaplans überzeugen Rainhard Mayr und Peter Keller mit sehr charakteristischem Timbre.

Lob an Orchester
Es ist dem Orchester des Opernhauses hoch anzurechnen, dass es die rhythmisch heikle und stilistisch so vielfältige Musik auf derart gutem Niveau durchzuhalten vermochte. Unter der klaren Zeichengebung von HK Gruber fanden sich alle Beteiligten auch in den tumultuösen Momenten immer zu recht.

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Zürichsee-Zeitung

14. 6. 2005 / Torbjörn Bergflödt

Die da oben und die da unten
Am Opernhaus ist "Der Herr Nordwind" uraufgeführt worden

Das neue Musiktheater von HK Gruber mit H. C. Artmanns einzigem Opern-Libretto will keine Ghetto-Veranstaltung fürs Expertentum sein. In diese Richtung zielt auch die gelungene Uraufführungs-Inszenierung am Opernhaus durch Michael Sturminger.

«krokur mik att hämta» und «altso mälti donnur» beginnen Nordwind und seine Frau Holla zu singen. In einem Kunstschwedisch ist dieses Schlussduett gehalten. Bei einer wortdeuterischen Spurensuche gibt der Dialekt, den es, so, nicht gibt, Sinnanteile frei, welche die «Moral von der Geschicht» andeuten. Vor Aberglauben und (geistlichen) Obrigkeiten scheint H. C. Artmann zu warnen. Das Libretto, das zugleich das letzte Werk des 2000 gestorbenen Wiener Sprachkunstwerkers überhaupt ist, handelt in der Tat von «denen da oben» und von «denen da unten»; von den Vermögend-Mächtigen und von den Armen, die sich der List der Reichen erwehren müssen und nur zwischenzeitlich sich laben dürfen an der Mildtätigkeit der Götter «ganz oben» - die von der Not derer im Parterre des Weltgebäudes im Grunde nichts wissen.

Geppone, seine Frau Anna und ihre drei Kinder wirtschaften auf dem Grundstück eines Geistlichen und hungern, weil «Herr Nordwind» mit eisigem Atem über die Felder bläst und die Ernte zerstört. Der Bauer stellt den Windgott zur Rede und bekommt von dessen Gattin ein silbernes und dann, weil der Prior es ihm abluchst, noch ein goldenes Kästchen. Geschenkt, aus denen heraus sich Speis und Tramk zaubern lassen. Nachdem das Kloster Geppones redseliger Frau auch das zweite Kästlein hat abluchsen können, wird ein Fresskonzil, zu dem der Prior den Bischof und dessen Entourage einlädt, zu einer Abrechnung der handfesten Art: Statt Würsten und Wein kommen aus dem Gefäss Baseballspieler, welche die Geistlichkeit und vier Honoratioren keulenschwingend Mores lehren. Komponist und Regisseur verschalten das Schlussduett in Worten und Tönen noch mit einer Bauernfamilienszene, die zeigt, dass die Frau das Geppone wieder ausgehändigte silberne Kästlein sich nochmals, diesmal durch den Bischof, hat abluchsen lassen. So ergibt sich eine Endlosspirale, bekommt die lineare Erzählung einen Dreh ins Zyklische.

Artmanns Wortmusik
Den grössteh Erfolg kann der 1943 geborene österreichische Komponist, Dirigent, Chansonnier und Kontrabassist HK Gruber verbuchen mit seinem «Frankenstein!!». Das 1978 uraufgeführte «Pandämonium für Chansonnier und Orchester» auf Verse gleichfalls von Artmann führt ganz direkt in jenes Wien-typische Fach des Schwarzhumorig-Skurrilen und verweigert sich, personalstiltypisch, einem bleichwangigen, dünnlippigen Avantgarde-Verständnis. Der harte Kern der Nach-Darmstadt-Adornoisten dürfte HK Gruber alias «Nali» ohnehin schon exkommuniziert haben.

Wer ihn schon als Chansonnier live mit «Frankenstein!!» oder auf seiner «Dreigroschenoper»-Einspielung oder als pointensicheren Redner in eigener Sache gehört hat, mag, was nun seine dritte Oper betrifft, vielleicht etwas «süffigere», sinnlich noch anspringendere Klänge erwartet haben. Gruber hat es auf Anbiederung an einen Mainstream-Geschmack freilich nicht abgesehen, und derText von Artmann ist, für sich betrachtet, schon Musik; Wortmusik eben. Das Libretto enthält politische Botschaften in chiffrierter Form, ist aber nicht zum wenigsten eine assoziativ sich vernetzende Partitur von Lautgebilden, oftmals, in Knittelversen von artifiziell gebrochener Rohheit. Insofern hat der Komponist sich passenderweise oft darauf verlegt, in einem rezitativischen, wortbetonten Stil zu schreiben - der sich freilich auch ins Ariose öffnet. Man darf, wie Gruber selbst es schon getan hat, auf Schönbergs Verfahren in «Pierrot lunaire» verweisen. Es gibt bei Gruber motivisch «Gearbeitetes», ja, fallweise Klangbilder, die von ferne geradezu an jene avancierte E-Musik gemahnen können, die, wo sie sich hermetisch abschottet, «Nalis» Erzfeindin ist. Freilich gibt es auch melodiösere Passagen wie jenes fast Musical-kompatible morgendliche Couplet der gut gelaunten Anna zu Beginn von Szene fünf.

Théâtre à machines
Der Regisseur Michael Sturminger war intensiv am Opernprojekt beteiligt, wobei Gruber und Sturminger jene vom Autor nachgereichten Seiten verarbeitet haben, die in der heuer erschienenen Buchhandelsausgabe im Residenz-Verlag nicht mehr Eingang fanden. Sturminger und sein Ausstatter-Duo Renate Martin und Andreas Donhauser, im filmischen Medium erprobt alle drei, dazu Jürgen Hoffmann (Lichtgestaltung) und Timo Schlüssel (Video) haben die Oper in wahrhaft ingeniöser Weise auf die Bühne gehievt. An barockes «théâtre à machines» erinnern die kubistisch verschachtelte flugtaugliche Götter-Behausung und die Flugmaschinen des Nordwinds. Auch Projektionen bewegter Wolken und von Schneelandschaften, das Arme-Leute-Häuserl (mit immerhin einer Satellitenschüssel) und das Klosterrefektorium samt einem ironisch-frech travestierenden Collage Grossformat im Hintergrund wachsen über eine rein zudienende Verortung hinaus. Die Personenführung überzeugt von der Spielbeschäftigung für Geppones Nachwuchs bis zur Slow-Motion beim vielfigurigen Showdown im Refektorium.

Der Tenor Alexander Kaimbacher als Geppone meisterte an der Premiere eindrucksvoll den gesanglich und schauspielerisch anspruchsvollen Part des Geppone und wurde mit seinem rrrrrollenden R und explodierenden Konsonanten bei dem Hausdebüt gleichsam zu HK Grubers wortartikulatorischem Vorzeigekünstler. Sandra Trattnigg im geblümten Hausrock zeichnete die Anna als «Naive» und damit Spielball der Mächtigen und Gewissenlosen. Oliver Widmer, aufgemacht wie eine Kreuzung aus nordischem Wettergott und US-amerikanischem Alt-Rocker, verströmte einen archaisierenden Kraftgesang in derTitelrolle. Die Holla war bei Judith Schmid eine lasziv-glamouröse Hollywood-Diva in Weiss. Mit typisierender Schärfe wirkten Cornelia Kallisch als Prior und Volker Vogel als dessen Köchin in den «Dress-crossing»-Partien der Oper. Weiter agierten Reinhard Mayr in der Rolle des Bischofs und Peter Keller in der mitleidlos hoch gesetzten Spieltenor-Partie des Kaplans. Die mit Silikon aufgepflasterten vier «Biedermänner»-Grotesken - darunter eiri «Nali»-Double - wehten einen schönen Hauch herbei vom maskenkünstlerischen Gewerbe von Tinseltown.

Stilpluralismus
Entsprechend dem anspielungsreichen Text offenbart die Musik von «Der Herr Nordwind» einen weiten Stilpluralismus. HK Gruber, zu Beginn mit seiner hell timbrierten Stimme als Sprecher ins Geschehen einführend, dirigierte das gross besetzte, auch mit vielen Schlag- und Effektinstrumenten bestückte Hausorchester und machte Anklänge hörbar von nordischer Folklore bis Jazz, von belcantistischer Oper bis zu sakralen Tönen und Rap, und manchmal entfesselte er ein organisiertes Chaos in tumultuösem Tutti.

Ein Geniewurf? Nein, so hat die Oper auf uns nicht gewirkt. So muss zum Beispiel etwas viel im Fortissimo geschmettert, in gleichsam oratorischer Manier gekraftmeiert werden. Erreicht hat HK Gruber immerhin, moderne Oper goutierbar zu machen nicht nur für Anhänger einer sauerstoffarmen Komplexitäts-Fraktion, ohne sich dabei doch bei einem Crossover der billigen Sorte anzudienen. Das ist nicht wenig.

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Die Presse

14. 6. 2005 / Petra Haiderer

Schwarze Tinte für die Toskana
H. K. Grubers "Der Herr Nordwind", nach H. C. Artmann uraufgeführt.

Witzig, liebenswert, mit einem Quäntchen "schwoazza dintn" kleidet H. C. Artmann das toska nische Märchen vom armen Bauern Geppone, dessen Ernte fortwährend der Nordwind zunichte macht, in seinen typischen pointierten Sprachklang. Auch nimmt er sich der folgenschweren weiblichen Geschwätzigkeit heiter-augenzwinkernd an - und rückt speziell der Scheinheiligkeit kirchlicher Würdenträger im Laufe des Geschehens unbarmherzig zu Leibe. Keineswegs nur sprachlich.

Der österreichische Wortakrobat hätte sich zur musikalischen Umsetzung seines einzigen Opernlibrettos keinen Besseren als H. K. Gruber wünschen können. Feinfühlig spürt der Komponist den lautmalerischen Impulsen der Sprache nach, unterstreicht mit markanten Orchesterfarben die klangliche Vielfalt des Wortes, verquickt spielfreudig sprachliche, musikalische Rhythmik und stellt die Musik ganz und gar in den Dienst der Erzählung.

Gruber, leidenschaftlicher Verfechter der "Worrrrtdeutlichkeit", geht zu Beginn mit gutem Beispiel voran. Launig erzählt er am Pult des Zürcher Opernorchesters, wie alles kam. Geppone (facettenreich: Alexander Kaimbacher), des Elends und des Hungers leid, das der Nordwind anrichtet, macht sich auf den Weg, um ihn zur Rede zu stellen. In der Burg des kalten Gesellen ist zunächst nur seine Frau, Holla (klangvoll: Judith Schmid), zugegen.

Der verführerischen Schönen, von der Kostümbildnerin Renate Martin in gleißendes Weiß im Stil der zwanziger Jahre gekleidet, verfällt Geppone augenblicklich. Sturmesbrausen im Orchester kündet die nahe Ankunft des Herrn Nordwind an (mächtig: Oliver Widmer). Dieser aber ist sich seiner frostigen Schuld gar nicht bewusst, er "folgt nur der Natur, die mir mein Hauptgott auferlegt".

Doch Holla soll Abhilfe schaffen - mittels eines silbernen "Kästlein-deck-dich". Wesentliche Bedingung: Die kulinarischen Genüsse dürfen nur bei echtem Hunger in Anspruch genommen werden. Guten Mutes macht sich Geppone auf den Heimweg zu Weib und Kindern. In der ärmlichen Holzhütte drängt sich frierend und hungernd die Familie. Auch Bühnenbildner Andreas Donhauser nützt die Gelegenheit, neben bezaubernder Fantasie auch kleine (gesellschaftliche) Seitenhiebe auf die Bühne zu stellen.

Was ein ordentlicher Bauersmann ist - Not hin oder her - hat jedenfalls eine Satellitenschüssel auf dem Dach. Das satte Glück des Zauberkästleins währt allerdings nur kurz - zu groß ist das Mitteilungsbedürfnis von Geppones Frau Anna (exzellent meistert Sandra Trattnigg die immensen stimmlichen Anforderungen). Der wohlgenährte Prior (komödiantisch Cornelia Kallisch) hat - im wahren Wortsinn - Wind von der Sache bekommen und luchst der armen Familie das Kästlein mit klerikalem Druck ab. Der Kreislauf beginnt von neuem, musikalisch ausgeklügelt zwischen kleinen Varianten und Gleichbleibendem. Geppone bekommt eine zweite Chance, ein goldenes Kästlein, der Herr Nordwind fliegt ihn in seinem märchenhaften Himmelsgefährt "zurück in die Zukunft".

Noch einmal begibt sich die Familie satt zur Ruhe. Köstlich der zwischen Bühne und Orchester angestimmte "Schnarchchor". Doch es kommt, wie es kommen muss: Anna verrät abermals das Geheimnis. Ausgerechnet der listigen Köchin des Priors (zum Niederknien Volker Vogel!). Da nützt auch das frappante Jammern in höchsten Lagen nichts. Das Kästlein ist verloren. Der Prior lädt in allen Würden zum kirchlichen "Fresskonzil".

Michelangelos Gemälde aus der Sixtinischen Kapelle im Bühnenhintergrund hat einige sarkastische Ergänzungen erfahren: zwischen den himmlischen Gestalten werden Bratwürste, Hühnchen und Fasane hin und her gereicht, ein Kirchenfürst hockt auf einer Lade voller Geld. Dem würdelosen Treiben sieht H. C. Artmann aus einer Ecke zu, H. K. Gruber ist auf einer Wolkenbank zu entdecken, ganz hingerissen von einer himmlischen Schönheit.

Das Konzil beginnt: Der Bischof (sonor: Reinhard Mayr) zieht unter einem Baldachin ein, den vier Biedermännern tragen, einer von ihnen sieht dem Komponisten täuschend ähnlich. Spitzbübisch modellieren Tenorhorn und Tuba eine "ehrwürdige" Kantilene. Die feisten Herren nehmen an der Tafel Platz. Der ehrliche Kaplan aber (darstellerisch ausgezeichnet Peter Keller) bekommt nur ein kleines Stockerl.

Die Köchin möge auftragen. Doch das Kästlein straft den, der ohne Hunger isst. Statt der Würste beziehen die Kirchenmänner tüchtig Prügel von vier wuchtigen Baseballspielern. In Zeitlupe und hoch musikalisch lässt Regisseur Michael Sturminger, der mit viel Gespür für Bewegung und Personenführung agiert, alles zu Bruch gehen. Geppone wird eilends zu Hilfe geholt, beendet das böse Treiben, als er den Deckel des Kästchens schließt.

In die Hände des Kaplans wird das goldene Kästlein gelegt, das silberne gibt der einsichtige Prior zurück in Geppones Hände. Alles scheint doch noch ein gutes Ende zu nehmen.

Doch in einer plötzlichen Bewegung schnappt der Bischof das Kästlein und verschwindet. Das Ende: Der Herr Nordwind und seine Frau Holla singen in Artmanns assoziationsreicher skandinavischer Kunstsprache, während sich Geppone ein weiteres Mal zum Bittgesuch rüstet.

Die Moral von der Geschicht? Trau nur ja keinem Pfaffen nicht! Das Publikum ließ sich auf die humorvolle Parabel sichtlich ein, zollte Gruber und seinem Team freudigen Applaus. In jedem Fall war die Uraufführung ein gelungenes "Geburtstagsständchen" für H. C. Artmann: am 12. Juni wäre er vierundachtzig Jahre alt geworden.

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Salzburger Nachrichten

14. 6. 2005 / Derek Weber

Märchen für das Opernhaus
Uraufführung von Heinz Karl Grubers Oper "Der Herr Nordwind" in Zürich

Märchen haben ihre eigene Logik. Das weiß man spätestens seit Vladimir Propps Untersuchung aus den 1920er Jahren. Und dass eine Märchenoper nicht unbedingt für Kinder geschrieben sein muß, hat Hans Werner Henze mit "L'Upupa" bewiesen, die bei den Salzburger Festspielen 2003 uraufgeführt wurde.

Was aber passiert, wenn einer wie H.C. Artmann das Libretto für eine Märchenoper schreibt? Das folgt dann einer ganz eigenen Logik und zwingt dem, der sie vertont, posthum diese Logik auf. Denn als Artmann - im Jahr 2000 - starb, hatte Heinz Karl Gruber noch keine Note geschrieben.

Die Vorgeschichte der Oper vom Herrn Nordwind - aus dem der Verlag, der das Textbuch veröffentlichte, einen "Norrrdwind" gemacht hat - reicht noch ins letzte Jahrtausend zurück, als das Wiener Herbert-von-Karajan-Centrum die beiden um eine Märchenoper für Kinder bat. Eine Kinderoper wollten sie freilich nicht schreiben, doch fand sich ein passendes Märchen - ein toskanisches, das die Geschichte vom Bauern Geppone erzählt, der den Nordwind bittet, ihm Kompensation für die Schäden zu gewähren, die er anrichtet. Er erhält ein Silberkästchen, das Nahrung spendet. Doch das wird dem Bauern vom bösen Prior abgeluchst. Der wird dann von kräftigen Kerlen, die aus einer goldenen Dose kommen, verprügelt.

H. C. hat daraus sein eigenes nördliches Sprachmärchen gemacht, in dem der Herr Nordwind und seine Frau Holla ein erfundenes und nicht übersetzbares Schwedisch sprechen. Und Heinz Karl Gruber machte daraus eine abendfüllende Oper.

Artmanns Text ist so virtuos und witzig und voll von Melos, dass der Komponist fast ein wenig zum gebannten Kaninchen wurde und über weite Teile einer Art von modernem Recitar-cantando folgt, dessen Logik durch den Duktus der Sprache bestimmt ist. Den handelnden Personen sind Farbleitmotive zugeordnet. Jazzig-Rockiges kommt vor, auch manches, bei dem man sich ein wenig an Benjamin Brittens "Sommernachtstraum" zu erinnern meint. Die Oper hat einen flockigen, leichten Grundton, ein Parlando, das sozusagen über dem Boden schwebt. Dieses Schwebende ist aber auch das Manko: Es gibt keine eigentlichen musikalisch-dramatischen Höhepunkte. Selbst die Prügelszene am Schluss der Oper verläuft sich in Musik und szenischer Umsetzung in der Zeitlupe.

Der Komponist leitete selbst die Uraufführung. Michael Sturminger, der dem Komponisten nach dem Tod H. C. Artmanns auch als Diskussionspartner beim Umsetzen des geschriebenen Textes ins Opernhafte zur Verfügung stand, steuerte mit seinen beiden Ausstattern eine fantasievolle, zwischen Silberweiß und Nordblau changierende Inszenierung mit Rauch und Flugwerk bei. Unter den Sängern ragten Alexander Kaimbacher als Geppone und Volker Vogel als Köchin des gierigen Prior hervor.

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Der Standard

14. 6. 2005 / Ljubisa Tosic

Märchenhafte Möbiusschleife
Neues österreichisches Musiktheater findet zurzeit im Exil statt: Heinz Karl Grubers neue Oper "Der herr norrrdwind" nach einem Text von H. C. Artmann in Zürich

Zum Schluss kommt HK "Nali" Gruber noch einmal solo vor den Vorhang, allerdings um den Zuspruch "zu teilen". Er deutet mit dem Zeigerfinger nach oben - H. C. Artmann, der nun nicht mehr dabei sein kann und mutmaßlich "da oben" weilt, soll auch seinen Teil der irdischen Applausfreuden bekommen. Schließlich hat er nicht einfach irgendein Wort zu Grubers Ton ersonnen - in seinem Libretto zu Der herr norrrdwind hat er sogar einen schwedischen Dialekt erfunden. Zudem wäre er an diesem Sonntag auch noch 84 geworden.

Ein Bild vom abwesenden Dichter konnten sich die Zeugen der Uraufführung am Opernhaus Zürich allerdings durchaus machen. Sein Gesicht war in der Inszenierung von Michael Sturminger auf einem Fresko (Bühnenbild: Renate Martin) zu sehen, und zwei Darsteller in der Schlussszene sind eindeutig als Dichter maskiert.

Posthume Opernehren
Der optisch so Herbeizitierte war in seinen letzten Lebensmonaten körperlich schon zu schwach, um seinen Text selbst zu schreiben. So musste sich Artmanns Gattin, Rosa Pock, an den PC setzen und sich den geistvollen Mix aus Märchen und Satire in einem langwierigen Schaffensprozess diktieren lassen.

Wohl hat der Dichter noch zu seinen Lebzeiten Gruber den ganzen Text im Freundeskreis vortragen lassen, aber keine Note der Oper gehört. Denn Gruber begann erst lange nach Fertigstellung des Librettos nach Artmanns Tod (2001) daran zu arbeiten. Und, um die Gegenwart des Wortgebers zu simulieren, habe er, so Gruber, in seinem Komponierzimmer ein Artmann-Foto aufgehängt. Der Literat hatte ihm ja schon früher Glück gebracht. Grubers Hit Frankenstein! basierte ja auch auf einem Artmann-Text.

Auch Gruber war bei der Aufführung gegenwärtiger, als es ein Komponist gemeinhin zu sein pflegt. Er ist Dirigent, er ist auch der sprechende Dirigent, wenn er zu Beginn dem Orchester den Rücken zukehrt, um in einer ungemütlichen Position Einsätze zu geben und gleichzeitig als Erzähler in die Geschichte von Geppone einzuführen.

Und eindeutig ist auch er auf der Bühne sichtbar - neben den zwei Artmann-Figuren ist auch eine Gruber-Figur als Biedermann (Kostüme: Andreas Donhauser) zugegen, um von Baseballschlägern Prügel zu beziehen. Aber zurück zum Anfang:

Bauer Geppone beschließt, beim Herrn Norrrdwind beschwerdemäßig vorstellig zu werden, da dieser ihm unentwegt die Ernte ruiniert. Dort bekommt er von dessen Frau Holla nebst einer Liebesstunde auch ein Kästchen geschenkt, das für ihn und seine Familie (Frau und drei Kinder) Nahrung herbeizaubert. Doch das Wunderkisterl fällt dem Ortsprior in die Hände.

Geppone begibt sich abermals auf Reise, bekommt ein neues Kisterl und verliert es wieder. In der Schlussszene veranstaltet der Prior für den Bischof ein Fresskonzil, doch statt Würsten entspringen der Kiste vier Rüpel, die der gierigen Obrigkeit als Menü eine Tracht Baseballprügel servieren. Geppone beendet die Prügelei und will die Kiste einem Kaplan schenken, damit dieser Gutes tut. Doch auch der Bischof begehrt die Kiste . . .

Das ist also eine Art märchenhafte Möbiusschleife, die Artmann hier auf der Basis einer alten Geschichte ersonnen hat. Und in die er neben Sinnspruchslapstick und Fantasiesprache auch ein bisschen Wut hineingeschrieben hat.

Gruber, ohnedies Freund einer sehr klaren Bühnensprache, lässt das Wort deutlich zum Vorschein kommen, komponiert neben eleganten Kantilenen oft ein kontrapunktisch-polyrhythmisches Parlando.

Sein ohrenfreundlicher Stil zeugt auch von der Befähigung zum orchestralen Raffinement und ist frei von stilistischen Berührungsängsten. Da ist ein bisschen Bernstein drin, da und dort synkopiert Gruber dezent jazzig, und auch eine stilisierte Art der Minimal Music scheint in den rhythmisch prägnanten Patterns gegenwärtig. Zwischendurch auch flächige Klangelegik; dann wieder heftiges orchestrales Aufstampfen.

Szenische Dynamik
Sturmingers Inszenierung hat die Charaktere sympathisch bis skurril überzeichnet angelegt. Auch die Raumlösung passt: Auf atmosphärisch starker, leerer Bühne wechseln einander Geppones (tadellos: Alexander Kaimbacher) karge Hütte und das von oben herabschwebende Eisdomizil des Herrn Nordwind (witzig: Oliver Widmer) und seiner Frau Holla (als Stummfilm-Blondine der 20er-Jahre: Judith Schmid) einander effektvoll ab, was dem Bühnengeschehen Dynamik verleiht.

In Summe eine fantasievolle, pointenreiche und bei aller Zugänglichkeit musikalisch nicht unkomplexe Neuheit, im Auftrag des Wiener Karajan Centrums entstanden. Überdies sind Aufführungen in Österreich vorerst skurrilerweise nicht geplant

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Kölner Stadt-Anzeiger

17. 6. 2005 / Petra Haiderer

Baseballspieler mischen das Fresskonzil auf
Die humorvolle Parabel mit antiklerikalen Ingredienzien fand herzlichen Publikumsbeifall.

Witzig, liebenswert und mit einem Quäntchen „Schwoazza Dintn“ kleidet HC Artmann das toskanische Märchen vom armen Bauern Geppone, dessen Ernte stets vom Nordwind vernichtet wird, in seinen typischen pointierten Sprachklang. Nimmt er sich dabei weiblicher Geschwätzigkeit noch heiter-augenzwinkernd an, so rückt er der Scheinheiligkeit kirchlicher Würdenträger unbarmherzig zu Leibe.

Keineswegs nur sprachlich. Der österreichische Wortakrobat hätte sich zur musikalischen Umsetzung seines einzigen Opernlibrettos keinen Besseren als HK Gruber wünschen können. Feinfühlig spürt der den lautmalerischen Impulsen der Sprache nach, unterstreicht mit markanten Orchesterfarben die klangliche Vielfalt des Wortes, verquickt spielfreudig sprachliche und musikalische Rhythmik, stellt die Musik in den Dienst der Erzählung.

Gruber, leidenschaftlicher Verfechter der „Worrrrtdeutlichkeit“, geht zu Beginn mit gutem Beispiel voran. Launig erzählt er am Pult des Zürcher Opernorchesters, wie alles kam: Geppone (facettenreich Alexander Kaimbacher), des Elends und des Hungers leid, das der Nordwind anrichtet, macht sich auf den Weg, um ihn zur Rede zu stellen. In der Burg des kalten Gesellen ist zunächst nur seine Frau, Holla (klangvoll Judith Schmid), zugegen. Der verführerischen Schönen, von Kostümbildnerin Renate Martin in gleißendes Weiß gekleidet, verfällt Geppone augenblicklich. Sturmesbrausen im Orchester kündet Herrn Nordwind an (mächtig Oliver Widmer). Der ist sich seiner Schuld nicht bewusst, „folgt nur der Natur, die mir mein Hauptgott auferlegt“.

Doch Holla soll Abhilfe schaffen - mittels eines silbernen „Kästlein-deck-dich“. Bedingung: Die kulinarischen Genüsse dürfen nur bei echtem Hunger in Anspruch genommen werden. Guten Mutes macht sich Geppone auf den Heimweg zu Weib und Kindern. In der ärmlichen Holzhütte drängt sich frierend und hungernd die Familie. Auch Bühnenbildner Andreas Donhauser nützt die Gelegenheit, neben bezaubernder Fantasie kleine Seitenhiebe auf die Bühne zu bringen. Was - Not hin, Not her - ein ordentlicher Bauersmann, hat jedenfalls eine Satellitenschüssel auf dem Dach.

Das satte Glück des Zauberkästleins währt nur kurz - zu groß ist das Mitteilungsbedürfnis von Geppones Frau Anna (exzellent meistert Sandra Trattnigg die immensen stimmlichen Anforderungen). Der wohlgenährte Prior (komödiantisch Cornelia Kallisch) hat Wind von der Sache bekommen und luchst der Familie das Kästlein ab. Das geschieht dann leider auch mit dem goldenen Ersatz, den Herr Nordwind besorgt. Der Prior lädt zum „Fresskonzil“. Michelangelos Gemälde aus der Sixtinischen Kapelle im Bühnenhintergrund hat einige Ergänzungen erfahren: Zwischen den himmlischen Gestalten werden Bratwürste, Hühnchen und Fasane hin und her gereicht, ein Kirchenfürst hockt auf einer Lade voller Geld. Dem Treiben sieht HC Artmann aus einer Ecke zu, HK Gruber ist auf einer Wolkenbank zu entdecken.

Der Bischof (sonor Reinhard Mayr) zieht ein, das Konzil der feisten Herren beginnt. Spitzbübisch modellieren Tenorhorn und Tuba eine „ehrwürdige“ Kantilene. Doch das Kästlein straft den, der ohne Hunger essen will. Statt der Würste beziehen die Kirchenmänner tüchtig Prügel von vier Baseballspielern. In Zeitlupe und hoch musikalisch lässt Regisseur Michael Sturminger, der mit viel Gespür für Bewegung und Personenführung agiert, alles zu Bruch gehen. Der zu Hilfe geholte Geppone beendet das böse Treiben: In die Hände eines mageren Kaplans legt er das goldene Kästlein, das silberne gibt der einsichtige Prior Geppone zurück. Alles scheint doch noch ein gutes Ende zu nehmen. Doch der Bischof schnappt das silberne Kästlein und verschwindet.

Am Ende ist alles, wie es begann: Der Herr Nordwind und seine Frau singen in Artmanns assoziationsreicher skandinavischer Kunstsprache, während sich der armselige Geppone zum Bittgesuch rüstet. Das Publikum ließ sich auf die humorvolle Parabel ein, zollte freudigen Applaus. In jedem Fall war die Uraufführung ein gelungenes „Geburtstagsständchen“ für HC Artmann, der jetzt 84 Jahre alt geworden wäre.

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Süddeutsche Zeitung

14.6.2005 / Heinz W. Koch

Die Bratwurst zaubert uns ein Osterei

Nichts für Schubladenhörer: HK Gruber zeigt in Zürich erstmals seine H. C. Artmann-Oper "der herr nordwind"

Das sah man selten: Kaum dass der Dirigent am Zürcher Opernpult erschienen ist, erfasst ihn der Scheinwerfer. HK Gruber wendet sich zum Publikum: Er selber ist der Sprecher, den seine neue Oper "der herr nordwind" vorsieht. Und hört man, wie er da vom armen "Bauersmann namens Geppone" zu erzählen beginnt, raunzend, schnarrend, mit rrrrollendem "R", dann meint man, zugleich einen anderen Wiener mitzuhören: den Librettisten H. C. Artmann, der nur einmal in seinem Dichterleben einen Operntext verfasste -- eben diesen.

Kein Wunder, hatte Gruber doch 1978 mit "Frankenstein!! -- Ein Pandämonium für Chansonnier und Orchester" auf Verse Artmanns seinen bis dato größten Erfolg. Erstaufgeführt hat das Stück Simon Rattle, genauso wie 2003 "Dancing in the Dark". Rattle kommt in der Komponistenvita des heute 62-Jährigen immer wieder vor. Genauso Leonard Bernstein, der Grubers wichtigster Förderer war. Abermals kein Wunder, denn suchte man für Grubers unorthodoxes Komponieren eine Bezugsgröße -- niemand anderes als der ähnlich scheuklappenfreie Amerikaner fiele einem ein.

Gruber ist ein Multitalent, ist Kontrabassist, Chansonnier, Dirigent und nichts für Schubladendenker und schon gar nichts für Etepetete-Avantgardisten der reinen Lehre. Seine Violinkonzerte heißen " . . . aus schatten duft gewebt" und "Nebelsteinmusik", sein Schlagzeugkonzert "Rough Music", eine seiner nunmehr drei Opern "Gomorra". Gruber ist ein fabulierender Musiker und mit Strukturkategorien so wenig zu fassen wie Bernstein. Moden, Indoktrinationen gar sind seine Sache nicht. 1966 gehörte er zu der Wiener Komponistenclique, die die "alte Maschine der Tonalität zu ölen und neu anzuwerfen" sich aufmachte. Etwas von Weill-, von Eisler-Nachfolge ist bei ihm allemal im Spiel. Er nimmt, wo er's kriegt.

"Scalka ec fra thott fülki falli sialf til vallar": Man wäre gern dabei gewesen, als der Dichter Artmann dem Komponisten Gruber das toskanische Märchen von Geppone samt augenblicklicher Übersetzung vorlas, das er als Antwort auf den Auftrag des Wiener Herbert-von-Karajan-Centrums erkoren hatte. Geppone heißt der Märchenheld. Er macht sich in die ungemütlichen Gefilde des Herrn Nordwind auf, weil "dein herbstlich tun verweht, was ich an korn gesät", dieweil der also Kritisierte betont: "mich dünkts als sei mein walten lau und lind, mir ists als sei mein hauch wie sanfter maienrauch!" Hier dominiert Hintersinn.

Der Herr Nordwind und seine erotisch empfängliche Gemahlin Holla greifen dem Hungerleider Geppone unter die Arme: erst mit einem silbernen, dann mit einem goldenen Kästlein-deck-dich, das diesem und seiner darbenden Familie Bratwürste, Wein und andere Köstlichkeiten spendiert. Mit dieser Zauberschachtel lässt sich auch der rabiate altgermanische Schlägertrupp herbeizitieren, der die fressenden und saufenden Kleriker der finalen Prasserei verdrischt. Nur der mickrige Kaplan bleibt unversohlt. Er bekommt -- Moral! -- das Kästchen, auf dass er den Armen helfe. Geppone versucht unterdessen, Kästchen Nummer drei zu ergattern.

Nicht eben neu ist natürlich auch die Musik des Resteverwerters Gruber. Der kann die Wetter toben lassen, dass die Wände wackeln. Er kann nach allen Regeln der Kunst kolorieren und auch zwischen viel Tonalem und einigem Seriellen hin- und herschweifen. Und er kann auch komplizierte vielzüngige Ensembles mit einem Rap als Cantus firmus drechseln. Ein Polystilist, der indes am stärksten bei sich selber ist, wenn er das saftig mitmachende Zürcher Opernorchester zur Bigband umfunktioniert und es vollmundig und unverstellt swingen lässt. Manchmal fällt dem Komponisten bange Minuten lang gar nichts ein. Dann belässt er es beim Platzieren musikalischer Satzzeichen, begnügt er sich mit routinierter Hörspielmusik. Das beinahe oratorische Ende hat etwas von Weills "Mahagonny"-Marschtritt, ehe Gruber mit einem letzten tumultuösen Machtwort dazwischenfährt. Auf Wirkung versteht er sich weiß Gott.

Auf Renate Martins und Andreas Donhausers Bühne gibt es eine vom Himmel hernieder schwebende futuristische Nordwind-Behausung sowie eine löchrige Arme-Leute-Puppenstube. Regisseur Michael Sturminger verfährt darin, wie's im Buche steht -- was wortwörtlich zu nehmen und, abgesehen von der freigiebigen "feschen Schneefee" Madame Holla, allzu brav ist. Dafür bezwingen die Sopranaufschwünge Sandra Trattniggs als notleidende mütterliche Plaudertasche um so nachhaltiger, nutzt Judith Schmids runder Mezzo als Holla die Kantilenen, die Gruber selbstredend auch schreiben kann, pointiert Cornelia Kallisch Alt die Hinterhältigkeit des Priors, trägt Oliver Widmers höhenfester Bariton in der nicht sehr umfänglichen Titelpartie kräftig auf und entpuppt sich der wendige Tenor Alexander Kaimbacher als kregler Geppone als kapitale Singdarstellerbegabung.

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Die Welt

14. 6. 2005 / Stephan Hoffmann

Wiener Schmäh in Zürich: "Der Herr Nordwind" uraufgeführt

Und wenn sie nicht gestorben sind ... Gestorben sind sie zwar nicht, aber es sieht ziemlich trostlos aus für den Bauern Geppone und seine Familie. Denn der korrupte Bischof hat ihm im letzten Augenblick jenes Wunder-Kästlein weggeschnappt, das die Ernährung der Bauern-Familie sicherte. Der österreichische Sprachkünstler H. C. Artmann hat als sein letztes Werk vor seinem Tod im Jahre 2000 ein italienisches Märchen als Opernlibretto eingerichtet: "Der Herr Nordwind" sorgt zwar mit Eis, Schnee und kaltem Wind dafür, daß die Ernten des Bauern Geppone ständig mißraten, aber weil er im Grunde seines Herzens ein gutmütiger Kumpel ist, schenkt er Geppone jenes Kästlein.

Artmann widersetzte sich als Dichter sein Leben lang erfolgreich jeder Schubladisierung, er schrieb immer die Stücke, die man nicht von ihm erwartete, und mit Worten, die jeder Vorhersagbarkeit spotteten. So auch hier: Kraftausdrücke und eine unverständliche Kunst-Sprache, banale Küchen-Poesie und Anklänge ans Mittelhochdeutsche ergeben ein mixtum compositum von irritierend poetischer Wirkung. Das Stück entstand von Anfang an als Opernlibretto und in Zusammenarbeit mit dem Komponisten HK Gruber - auch er ist wie Artmann ein gelernter Wiener und mit den zugehörigen inkompatiblen Eigenschaften ausgestattet.

Auch Grubers Stil paßt in keine Schublade und wurde von keiner Schule geprägt. Er hat sich vor 35 Jahren den Postserialisten der Darmstädter Schule verweigert und ihnen seine eigene Form der Tonalität entgegengesetzt. Ein Dur-Akkord in den späten 60er Jahren oder gar lyrische Schönheit: Schlimmer ging's nimmer. Doch nicht einmal Grubers Gegner haben seine handwerkliche Meisterschaft, etwa seine Kunst der Instrumentation, je bestritten.

Die Zürcher Oper ist kein Haus, das für seine zahlreichen Uraufführungen bekannt wäre - dafür aber für seine vorzüglichen Sänger. Der junge Österreicherin Sandra Trattnigg als Geppones Frau Anna wird man ganz sicher auch noch in anderen Zusammenhängen begegnen, ausgezeichnet auch Alexander Kaimbacher als der um seine Familie besorgte Geppone. Regisseur Michael Sturminger hat das Stück ganz märchenhaft realisiert, voller eigenartiger Himmelsfahrzeuge und poetischen Bildern.

Eine recht kurzweilige Abendunterhaltung also, aber auch nicht mehr, denn mehr als die ganz reizvolle Interpretation eines bei uns unbekannten Märchens gab es nicht zu sehen. Ob das bei aller Liebenswürdigkeit und allem Wiener Schmäh als Substanz für eine abendfüllende Oper ausreicht? Zumal auch für die Musik gilt: Sie ist virtuos komponiert und wurde vom Zürcher Opernorchester unter Leitung des Komponisten äußerst effektreich gespielt - doch letztlich hat sie zu wenig Eigenprofil, weil sie weitgehend im Stil einer Bühnenmusik die Handlung bloß musikalisch illustriert.

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15. 06. 2005

Zurich Opera's `Der Herr Nordwind' Is a Raucous, Witty Hit

You are allowed to laugh. And you will. With its new world premiere, Zurich's opera house has a hit. H.K. Gruber's ``Der Herr Nordwind'' (``Mr. North Wind''), written with Viennese poet H.C. Artmann, is wildly entertaining. It's also complex, original and satisfying.

The 62-year-old Gruber, an avowed enemy of the earnest, atonal modernism of ``serious'' postwar composition, has a flair for the outrageous. His first piece with a text by Artmann, ``Frankenstein!! -- A Pandemonium for Chansonnier and Orchestra,'' won him fame in 1978. Artmann's black humor and laconic Viennese charm were a perfect match for Gruber's cheeky, lightfooted score.

There's a dash of cabaret and more than a hint of jazz in Gruber's music, alongside a gleeful affinity with the nursery toy box. Plastic piping, slide whistles and truckloads of percussion feature alongside more conventional orchestral instruments. At the same time, it's scrupulously rooted in classical tradition. Gruber's orchestration is flawless, his mastery of compositional technique self-evident. Fugue and counterpoint play as much of a role as rap and romanticism. Gruber helps himself to past and present, without sounding even slightly derivative.

``Der Herr Nordwind'' is based on an Italian folktale. Geppone, an impoverished farmer, struggles to feed his family. The icy North Wind repeatedly wrecks his crops. The farmer seeks out Mr. North Wind, is received kindly by his wife and voices his complaints. As compensation, the pair give him a silver box.

Golden Box
If the person who opens it is genuinely hungry, the box produces wonderful food and drink. Geppone and his family are delighted with the deal. Then their greedy landlord, a priest, discovers their change of fortune and confiscates the box. Moved again to pity, the North Wind gives Geppone a golden box. This, too, the priest takes; yet when he opens the lid, four thugs emerge and beat him senseless.

Artmann subverts the happy end, turning the tale into a cycle of gain and loss. The North Wind's wife becomes Holla, and the two speak an invented form of pseudo-Swedish, rich in innuendo, wickedly funny. For the rest, the text is fast-paced and impudent, clever and lavish, full of jagged angles, associative leaps, dialect and absurdity. Artmann died in 2000, leaving Gruber with one of the finest libretti of modern times. Like Salman Rushdie's ``Haroun and the Sea of Stories,'' this is a fairytale for young and old, operating on many simultaneous levels, infused with quicksilver joy in language itself. A first-rate English translation, though a Herculean task, would help the opera succeed internationally.

Wagnerian Skymobile
A measure of this premiere's success is due to Michael Sturminger's production and the designs of Renate Martin and Andreas Donhauser. The team has stayed with the fairy-tale theme and added a contemporary edge to produce a staging that is easy to read, solidly made and full of magic. Mr. North Wind is a Wagnerian caricature, in floor-length fur coat and jack boots, swigging beer from a can, barely noticing his sultry, seductive wife. He drives a skymobile worthy of Heath Robinson, complete with pedal-crank propellers front and back.

Gruber's score ranges from achingly lyrical arias for Holla and Geppone's wife Anna to exuberant dances and stormy cacophony. The narrative pace is swift, the effects are vivid and immediate, the architecture adroit and the vocal lines eminently singable. Sections of the dialogue are spoken, and Gruber's trademark rolled r's characterize crystal-clear delivery of a text where every word is savored. Gruber himself conducts, with a garish sense of color that makes up for an occasional lack of precision.

Priest and Cook
The cast is superb, uniformly able to toss off the rapid-fire patter or exuberant effects as if this were easy, which it clearly is not. Alexander Kaimbacher tackles the key role of Geppone with lithe charisma and the dramatic range to be convincingly desperate, delighted, violent and loving in turn. Sandra Trattnigg brings equal expressive variety to the part of Anna, lending poignant strength to her second-act lament.

Oliver Widmer is suitably imposing in the title role, Judith Schmid meltingly sensual as his equivocal wife, Cornelia Kallisch and Volker Vogel both side-splitting in the drag roles of the hypocritical priest and his cook.

``Der Herr Nordwind'' is a rare thing indeed, a new comic opera which is both truly new and truly comical. Unlike so many world premieres, this is a work that has every chance of entering the repertoire. We will certainly hear more of it.

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